Da hat die Welt mit Sicherheit drauf gewartet:
Die Ringe des Herrn
Leg dich nicht mit Jesus an!
Hier könnt ihr exklusiv das EBOOK für
1,99 EURO
erwerben!
Entweder per Mail an: kontakt@monduras.de
Formate: PDF, EPUB, MOBI
ODER
Hier ein kleiner Auszug aus dem Machwerk:
Prolog
Es war einmal … Tock, Tock, Tock.
Er atmete tief durch, verlagerte sein Gewicht von einem auf das andere Bein und wartete. Und wartete. Und wartete. Für einen wie ihn wäre das Warten eigentlich kein Problem. Wer unsterblich ist, dem sollte Zeit egal sein. Zeit war eine Erfindung für die Menschen, damit sie sich ihrer Vergänglichkeit bewusst wurden. Hier oben brauchten sie so etwas nicht. Und trotzdem schien es ihm nun unerträglich, auf diesen Wurm von einem Bediensteten zu warten. Sollte das Haus Gottes nicht eigentlich für jedermann zugänglich sein? Oder wenigstens für seine engsten Vertrauten? So wie früher? Nochmalig holte er die riesige Pranke unter dem roten Umhang hervor, hämmerte gegen das alte Holz und schimmerte mit seiner goldenen Rüstung umher.
TOCK, TOCK, TOCK
Die schweren, 6m hohen Türen erzitterten unter der unnatürlichen Kraft seiner Faust und der Widerhall verteilte sich donnernd im schlossartigen Eingangsbereich des Hauses. Endlich hörte man Jemanden herannahen. Dieser Jemand versuchte mit strammem, marschierendem Gleichschritt, nicht zu schnell und nicht zu langsam, die Macht des Türöffners und dessen Überheblichkeit auszudrücken. Leider verursachten die viel zu kleinen Absätzen einen zu lächerlich hohen Ton, um wirklich ernst genommen zu werden. Schließlich kamen hinter dem kunstvoll geschnitzten Holzportal die Schuhe und dessen Träger mit einem einvernehmlichen Klickklack zum Stehen. Eine Sichtluke in Augenhöhe eines mittelgroßen Menschenwesens wurde geöffnet und es erklang das übliche, lang gezogene:
„Jooah? Werrr begehrrt Einlass?“ Gabriel glotzte, wie immer, in den Sehschlitz. Sein Gegenüber musterte Gabb mit ausdrucksloser Miene und ebensolchem Seitenscheitel von oben bis unten, wieder hinauf, wieder runter und wieder aufwärts. Dieser Kerl ging ihm wahrlich auf die Nerven.
Mit dementsprechenden Gesichtsausdruck sprach der Engel ruhig, aber bestimmend:
„Mach schon auf. Du sollst sowieso jedem öffnen, also lass stecken und spiel dich nicht so auf, Mann.“ Mit der flachen Hand begann er gegen das Tor zu drücken. Ohne Erfolg.
„Nöcht so hastig, röder Borsche! Noch sötze öch am längerön Höbel. An mir kommt nömand so einfach vorrrbei, do Harfennymphe, do!“ Widerwillig klickte das Schloss unter dem Daumendruck des Türstehers, der nun blitzartig unter starkem Holzzerren in Schweiß ausbrach. Gabb half ungeduldig nach und drückte von außen. Er hatte schon genug Zeit verschwendet. Der männliche Mensch, gekleidet in seinem üblichen Dienstmädchen-Lackkleid und den glitzernden 12cm Pumps, fiel aufgrund der plötzlichen Leichtigkeit, mit der sich die Tür öffnete, übel nach hinten über. Direkt auf das Endstück seines Organs für Grobausscheidungen. Eventuell war es auch das des Denkvermögens, es machte sich jedoch niemand die Mühe, das herauszufinden. Jedenfalls zog er sich dabei eine grässliche Laufmasche zu. Als er sie entdeckte, verzog Mrs. Seitenscheitel säuerlich das stummelbärtige Gesicht. Gabriel schaute auf ihn hinab:
„Wäre ich kein Engel, würde ich dich zerdrücken wie eine Made! Überspanne den Bogen nicht, Hitler-CHEN“, raunzte Gabb, sichtlich angezornt.
„Wöre ich noch an dörr Macht, wörrde ich dö Himmelsscharen im Blitzkrög öberrennen. Ihr halben Höhnchen, ihr!“ sprach es und verzog sich, klickklack, hinterteilreibend, ins Körbchen unter der Treppe, um seine Wunden zu lecken. Und die Nylons zu wechseln.
„Tss“, zischte Gabb nur und drosselte den für Engel eigentlich untypischen Adrenalinanflug mit leichtem Gesumme einer Wagneroper, während sich die Schritte seiner schweren Stiefel rasch entfernten.
„Ah, tritt näher, ich habe dich erwartet“, sprach der bärtige Mann auf seinem mit Schnitzereien übersäten Holzsessel sitzend. Ritterlich trat Gabb vor, kniete sich rüstungsklappernd auf den dicken, dicht gewebten Teppich und verbeugte sich, wie vor einem kronenlosen König.
„Aber, aber, Gabriel. Bitte nicht so förmlich!“ meinte der Mann, dessen Alter nicht in Zeit auszudrücken war und streckte ihm die offene Handfläche entgegen. Der Engel ließ sich hochhelfen und machte ein grimmiges Gesicht. „Schlechte Laune?“, bemerkte sein Gegenüber.
„Du weißt warum, Vater. Aber ich kann diesen Hitler einfach nicht ab. Warum umgibst du dich mit diesem …“
„Schluss jetzt“, unterbrach ihn der Bärtige, harsch. „Du kennst die Antwort bereits. Ich gab sie dir ein Duzend Mal. Er hat seine Lektionen zu lernen und ich schicke ihn nicht wieder herunter, bis er ein wenig Demut zeigt. Leute wie er bedürfen spezieller Aufmerksamkeit wie herrenlose Hunde. Für ihn ist es schier unerträglich, hier bei mir dienen zu müssen.“ Dabei machte er eine ausladende Handbewegung. „Du weißt ja: Hölle ist kein Ort. Hölle ist ein Zustand. Aber nun genug davon!“
Gabb nickte und schluckte seine Kommentare herunter. So viel hatte er ihn noch nie reden hören und er empfand das als schlechtes Zeichen. „Warum bist du wirklich hier?“, fragte der Vater aller Dinge, stand auf und öffnete die Tür zu einem der Flure. „Komm, wir gehen ein Stück…“ Sie traten hinaus.
„Ich muss mir dir sprechen, Vater! Es geht um die Menschen“ hob Gabriel an.
„Die Menschen? Was ist mit ihnen. Wieder Krieg, Aufruhr, Krankheit, Ungehorsam und Apfeldiebstahl?“ Ein sanftes Lächeln umspielte den weißhaarumrahmten Mund.
„Vater!“ entrüstete sich der gerüstete Gabb, um dem Gespräch die Wichtigkeit wiederzugeben, die es nachdrücklich und mit erhobenem Zeigefinger verlangte.
„Du weißt, dass ich sie im Blick habe. Aber was bereitet dir Kopfzerbrechen, mein Erzengel?“, meinte Vater ernster. Am Ende des Ganges erreichten sie eine breite Marmortreppe in Weiß, die ins nächste Geschoss des Hauses führte. Hier war er noch nie gewesen. Irgendwie war das Haus ohnehin immer ein wenig anders, wenn er es besuchte. Die Bilder und Pflanzen wechselten, leere Rüstungen rüsteten vor sich hin, standen mal hier und mal dort, manchmal auch da drüben. Der Teppichstrich war mal nach vorne, mal nach hinten gebürstet und die Fenster kamen unregelmäßig in Abstand und Größe. Die einzige Konstante war der Ausblick. Blauer Himmel, weiße Wölkchen. Eigenartig. Aber deshalb war er nicht hergekommen.
„Du weißt, ich war eine Zeit lang unten und habe sie beobachtet. Die Menschen sind in religiöser Hinsicht gespaltener und uneiniger denn je. Es wird scheinbar immer schlimmer. Sie beten irgendwelche Götzen an, verlieren sich im Atheismus oder wechseln von hier nach dort und zurück!“ Es kam keine Reaktion. Der Vater hörte lediglich zu. Mit erbarmungsloser Geduld. Er war ein guter Zuhörer. Für einige auf Erden, ein zu Guter, mit einem Quäntchen Ignoranz. Vielleicht auch mehr. „Ihnen fehlt etwas, verstehst du?“, fragte Gabb. Nach der direkten Ansprache nickte der Bärtige leicht, erwiderte aber immer noch nichts. Gabriel fühlte sich bestätigt und sprach einfach weiter, während sie mehrfach abbogen, Treppen nahmen, wieder abbogen. Gang um Gang, Flur um Flur brachten sie hinter sich und er erzählte und Vater schwieg.
„…und zwar brauchen sie etwas, woran sie glauben können, was ihnen Hoffnung in dieser schweren Zeit gibt. Ehrlich gesagt befürchte ich, dass sie immer weiter ins Chaos abdriften. Darin versinken.“ Plötzlich stockte Gabriel, denn eine Tür trat ihnen in den Weg, die vorher nicht dort gestanden hatte. Mit massiver Zarge und Wand im Schlepptau. Der Engel hätte es beschwören können, dass sie zuvor definitiv nicht da gewesen war. Der Bärtige riss ihn aus den Gedanken:
„Und? Weiter?“ Fordernd wanderten die buschigen Augenbrauen herauf, dann ergriff er die Klinke, ein leichtes Knarzen ertönte und sie betraten ein Schlafzimmer. Es hätte genauso gut ein Tanzsaal sein können. Auf dem gebohnerten Holzboden spiegelte sich die durch hohe Fensterflügel hereinfallende Sonne. Die Wände waren mit fein gearbeitetem Holz vertäfelt und inmitten der Halle stand ein riesiges Doppelbett, an dessen Fußende, in einigem Abstand, ein reich verzierter, alter Doppeltürschrank aufgestellt war. Er wirkte viel zu klein und verloren, von Holzwürmern malträtier und leicht verzogen bis unfreundlich. Der Alte hielt darauf zu, woraufhin sich dessen Türen automatisch brummknarrend öffneten. Mit sofortiger Wirkung verdunkelte sich der Raum, eine unnatürliche Kälte breitete sich aus und Gabriel, der neben dem Alten Aufstellung genommen hatte, starrte in die tiefste Schwärze, die er je erblickt hatte. Selbst das Licht auf dem Boden kroch vor diesem Schrank einige Meter zurück und dem Erzengel schauderte. Dem Alten machte es scheinbar nichts aus, er war ja auch der Allmächtige. So stand er da und dachte und ein schrecklicher Laut drang aus dem Möbelstück heraus. Es war, wie wenn Kleiderbügel auf der Stange hin-und hergeschoben werden und für Gabriels empfindsame Ohren klang es wie sterbende Kakerlakenkinder, die nach einem Schulausflug zur nahegelegenen Müllhalde von einem Dreirad überfahren werden. Kopfschmerzen quälten ihn und ihm wurde übel. Einige Sekunden später, Nebelschwaden waberten bereits aus den offenen Türen zu Boden und verteilte sich zu ihren Füssen, reichte eine grünlich schimmernde Hand ein Kleidungsstück aus der Schwärze. An den knochigen Fingern hingen Fetzen toten Fleisches grau und fahl herunter. Der Vater warf das bunte Hemd aufs Bett hinter sich. Die Hand verschwand, der Vorgang wiederholte sich. Gabriel schluckte seine Gedanken mitsamt Galle herunter und redete unbeirrt weiter:
„Die Menschen brauchen einen Strohhalm an den sie sich klammern können. Und ich habe eine Idee, mit dessen Hilfe wir das bewerkstelligen.“ Bei diesem Ausspruch schaute der Alte ihn an und unterbrach die Wäschezeremonie:
„Aha … wir also …“ So hätte das Gespräch eigentlich nicht ablaufen sollen, dachte der Engel betrübt. Irgendwie erwartete er mehr Begeisterung vom Vater der Schöpfung, dem Meister aller Dinge. Denn immerhin ging es um seinen Ruf als Gott, als allmächtiges Wesen und seine Wirkung auf Erden usw. Trotzdem oder vor allem deswegen malte Gabriel weiter an dem Bild:
„Ich denke mir das so: Ich gehe nochmals runter. Aber nicht allein. Ich erbitte deinen Sohn.“
„Was? G-Junior?“ Vater drehte sich entrüstet um, hielt ein buntes Kurzarmhemd in der einen und eine extrem enge, weiße Schwimmshorts in der anderen Hand. Dabei blickte er in Gabbs tiefschwarz gefrorene Augen, dessen ausdruckslose Miene keinen Zweifel daran ließ, wie ernst es ihm war. Sein Gegenüber wechselte zu erstaunt und verwundert, dann zu amüsiert. Er bedeutete ihm, fortzufahren.
„Also, ich nehme deinen Sohn mit hinunter und leite ihn an. Mit meinem Marketingwissen und der Galionsfigur ‚Gottes Sohn‘ sind wir hervorragend aufgestellt und Positionieren dich göttlicher denn je bei den Un- und Falschgläubigen. Nicht umsonst hast du mir meinen Posten übertragen und mich aus der Poststelle herausgeholt, stimmt’s?“ Keine Antwort. Erst jetzt bemerkte Gabriel die Geschäftigkeit des Vaters. Kleidungsstück um Kleidungsstück wanderte auf den Haufen, Socken, Unterwäsche… Mit flüchtigem Blick sah er einen kleinen, gelben Heiligenschein auf den weißen Slippern. Hoffte er zumindest und verdrängte den Gedanken. Unvermittelt ließ sich der Alte auf die Bettkante sinken und schien zu überlegen. Wieder packte Gabb dieser erzengeluntypische Anflug von Adrenalin zwischen den beiden großen Zehen. Seine Flügelspitzen bogen sich nach oben und die Nackenhaare am Ansatz, fochten die Schlacht von Gettysburg, die erst Jahrhunderte später stattfinden sollte. Dann schaute Vater auf und meinte:
„Ich weiß nicht so recht… Gottes Sohn auf Erden?“ Oh nein. Er hielt den Plan für zu gewagt und tollkühn, dachte der Engel. Tief einatmend straffte er sich zum letzten Gefecht:
„Marketing ist alles, Vater“, sprach er eindringlich. „Ich sage dir, es muss etwas passieren. Jetzt. Mein Plan ist bonbonsicher[1]. Ich mache GJ zum Messias. Zum Heilsbringer. Mit allem was dazu gehört. Die Leute werden ihn lieben und in Scharen seinen Worten und Taten erliegen. Das Konzept, was ich entwickelt habe, ist grandios. Und wenn alles glattgeht, wirst du ihr einziger Gott werden und die Welt wird zu einem besseren Ort. Zudem lernt dein Sohnemann noch gehörig etwas dazu und ich kann dir meine Treue und Gefolgschaft mit einer ‚göttlichen Mission‘ untermauern. Eine glatte Win-win-Situation!“ Diesmal lächelte der Alte und die Falten in seinem Gesicht strafften sich freundlich um die Augen.
„Aber Gabriel. Du musst mir nichts beweisen. Du bist ein tüchtiger Engel, das weiß ich. Die Idee mit Gott-Junior finde ich übrigens gar nicht schlecht!“ Innerlich gingen in Gabb die Wunderkerzen an. Am liebsten hätte er den Vater umarmt, hielt sich aber zurück. „Ich sage dir aber etwas!“ Schlagartig verfinsterte sich des Engels Miene. Gott sprach beruhigend weiter:
„Wenn du diese göttliche Mission antrittst, bist du auf dich allein gestellt. Denn ich bin jetzt erst mal im Urlaub!“ Sogleich stand er auf, dachte sich eine Tasche aus dem Schrank, die ihm die verrottete Hand sogleich reichte und begann ein paar Sachen vom Bett hinein zu stopfen. Gabbs kantige Kinnlade klappte mehrfach herunter und herauf wie Koikarpfenschnappatmung.
„Urlaub?“, säuselte er irgendwann mühsam heraus, während Vater ein Teleskop aus dem Schrank empfing und ein weiteres abgrundtief hässliches Hawaii-Hemd in den Koffer warf.
„Ja, Urlaub. Zuerst habe ich morgen noch eine Götter-Konferenz und dann.“ Er machte eine bedeutungsvoll, kryptische Handbewegung. „Ab in den Urlaub. Ich bin aber nicht lange weg“, sagte er beschwichtigend. „Nur so um die 2000 Erdenjahre oder so. Mal sehen. Hier laufen die Dinge ohnehin wie geschmiert. Michael und ihr anderen …“, er klopfte seinem Engel bedeutsam auf die muskulöse, panzerbewehrte Schulter, „… ihr kriegt das schon hin!“ Gabb stand wie angewurzelt da. Vater macht Urlaub? Wie, jetzt, gleich oder wie oder was?
„Ja, aber!“ hörte er sich selbst mit dem vollen Druck seiner Stimme sagen. Inzwischen dachte sich Gott immer kuriosere Dinge aus dem kleinen Schrank. Die Totenhand hatte alle Knochen voll zu tun. Nicht nur, dass das Möbelstück alle Dinge beherbergte, die sich der Allmächtige erdachte, nein, auch seine Tasche nahm brav alles in sich auf, was ihm vorgeworfen wurde. Hätte Gabriel genauer hingesehen, hätte er die klierigen[2] Augen am rechten, unteren Rand aus dem Leder glotzen sehen. So verschwanden die ungeheuersten Dinge im schwarzen Lederschlund. Skier, Snowboard, Kuckucksuhr, ein Biber, zwei selbstgetöpferte Obstschalen in undefinierbarer Farbenpracht, Kreuzworträtselbücher in 20facher Ausführung, eine Dose Mais, eine Dose Erbsen&Möhren, Petrischalen, ein Elektronenmikroskop, zweifelhaft aussehende Bananenstauden, eine alte Matratze, und und und.
„Nichts aber. Ich habe die Sache zwar nicht durchdacht, warum auch, ich bin der Allmächtige, aber ich mache Urlaub. Oder zweifelst du mich an?“ Wow. Der Alte wurde jetzt richtiggehend knatschig. Er fühlte sich wohl angegriffen, dachte Gabb.
„Schau dir das an!“ meinte Gott und ließ sich einen Flyer aus dem Schrank reichen. Als ihn Gabriel entgegennahm, klebte ein alter Fingernagel daran, den er sichtlich angewidert zurück in den Schrank schnipste.
‚Wenn Sie als Gott mal so richtig abspannen wollen, besuchen Sie doch unseren Freizeit- und Erholungspark im Anderomeda 8 Nebel.‘
„Das ist nicht dein …“, rutschte ihm heraus, erstarrte jedoch sogleich.
„… Ernst?“ Unterbrach ihn der Vater. Jetzt ziemlich laut und pikiert. „Und ob!“
Gabb blickte auf den Videoflyer. Kleine Filmchen zeigten u. a. die lustige Nebelrutsche, auf der sich Jung und Alt fröhlich lachend mit Eisenschlitten die Gliedmaßen abfuhren und wieder heilten. Kopfschüttelnd verurteilte er Vaters Urlaubsentscheidung und wurde deshalb nervös. Doch was sollte er tun? Gott sagen er dürfe nicht tun, was er wollte? Sicher nicht. Und letztlich: Was machte es für einen Unterschied für seinen Plan. Er und GJ wären ohnehin auf der Erde und würden sich, zumindest für 1, 2 Jahrhunderte die Erdenzeit vertreiben, während hier oben alles seinen gewohnten Gang ging, stand, saß, aß und schlief.
„Ok“, sagte er dann und atmete tief durch. Gerade schob Vater einen dicken Stahlträger in seine Tasche, über dessen Bedeutung und Nutzen sich Gabb schon längst keine Gedanken mehr machte.
„Ist noch was?“, stöhnte Vater schwer beschäftigt und mühte sich mit dem rot lackierten, tonnenschweren Ding ab.
„Ähm, wenn du so fragst …“ Der Götterbote richtete sich innerlich ein wenig auf und brachte es dann hervor:
„Wenn ich G-Junior mitnehme, dann brauchen wir einen von Wollums Ringen. Ohne den Ring können wir nicht das Ausrichten, was mir vorschwebt!“
„Und das wäre?“, fragte sein Gegenüber, während dieser eine 4m Nordmanntanne mit roher Gewalt in die kleine Öffnung der Ledertasche zwängte. Vollständig geschmückt, versteht sich.
„Naja, Wasser in Wein verwandeln, auf dem Wasser laufen, Kranke heilen, Windräder reparieren. Das Übliche eben!“ Gab Gabb an. Mit hochgezogenen Augenbrauen wartete er die Antwort ab und sah gerade die Spitze des Baumes verschwinden, als Vater sich herumdrehte und ihm einen kleinen Gegenstand in die offene Hand legte.
„Du bist mir für den Ring verantwortlich. Also gib gut darauf Acht. In den falschen Händen kann er zum Albtraum werden.“
Ehrerbietig kniete der Engel sich hin, neigte den Kopf und sprach:
„Hab Dank, Vater! Ich wünsche dir einen schönen Urlaub.“ Dann rappelte er sich hoch und verließ festen Schrittes den Raum.
HokusPokus
Plötzlich stand er da. Von Dunkelheit und dichtem, aufsteigendem Nebel umgeben. Ein beißender Geruch nach erhitztem Metall, verbranntem Holz und Erbrochenem stieg ihm in die Nase. Hüstelnd sah er sich zaghaft um.
Überall lagen, teilweise noch glühende, Gesteinsbrocken verstreut. Sand, ein paar verkohlte Pflanzen auf rußgeschwärztem Boden. Und mittendrin: er. Was war hier bloß geschehen. Er griff sich an dem Kopf. Schmerzwellen durchfuhren ihn wie 12,5Tonner, die den Asphalt der äußeren Hirnrinde plattwalzten. Wie in Trance verging die eine und andere Minute. Er machte ein paar Schritte, fragte sich noch, warum er inmitten dieser Katastrophe stand, dann stolperte er und gab sich im Zeitlupentempo mit geschlossenen Augen der Erdanziehung hin.
Als er die Augen wieder aufschlug, war der meiste Rauch verschwunden. Restschwaden spielte mit dem Wind Fangen, zerfaserten, lösten sich auf. Wieder musste er husten, drückte sich mit den Armen nach oben und spürte, wie ihn bei jeder Bewegung stechende Schmerzen in Gliedern und Gelenken in der Realität willkommen hießen. Seine Haut war an zahlreichen Stellen auf- und teilweise abgeschürft. Ansonsten war er unversehrt geblieben. Ein Wunder, wenn man sich das Ausmaß dieses, was auch immer, hier betrachtete. Langsam traten zwischen den Wolken die Sterne hervor, funkelten am Himmel und der halbe Mond spendete ihm Licht. Die Umgebung klarte auf. Scheinbar befand er sich inmitten eines riesigen Kraters. Um ihn herum ging es nur bergauf und ihm wurde schwindelig, als er sich im Kreise drehte. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Wattebausch: Er hat keinen blassen Schimmer wer und wo er war, geschweige denn, was mit ihm geschehen sein mochte.
Ein seltsames Gefühl kroch an ihm hoch. Er konnte nicht genau sagen woran es lag, aber sein Körper kam ihm irgendwie unvertraut vor. Mochte ihm nicht richtig passen, als hätte er ihn sich nur ausgeliehen. Die schmutzigen, unbeschuhten Füße drückten mit dem darüber verwachsenen Beinoberkörperarmkopfgeäst mit etwa 100 Kilogramm auf den Boden ein. Der Rest seiner weißlichen Haut schimmerte unnatürlich silbern im Mondlicht. Das schwere, schwammige Fleisch seiner Gestalt reagierte merkwürdig verzögert auf seine gedanklichen Anweisungen. Zudem belastete ihn jede Bewegung, jede Drehung, jedes Bücken, jedes Strecken. Es liegt sicher am Schock, redete er sich ein. Oder etwa nicht? Zweifel befielen ihn wie Flöhe den Zwergmolch. Das Atmen fiel ihm plötzlich schwer. Er keuchte, hyperventilierte vor sich hin, hielt abrupt seinen Atem an und starrte mit unverhohlenem Entsetzen an sich herunter. Es fiel ihm wie Schuppen von den Fischlenden.
Er war … Er war NACKT!
Die Embryonalstellung brachte nach einigen Minuten etwas Ruhe in die verfahrene Situation. Nachdem er drei Mal bis 33 gezählt hatte, öffnete er zaghaft die Augen. Die Hoffnung, alles sei ein böser Traum gewesen, aus dem er nun aufwachte, stellte sich als Irrglaube heraus. Notgedrungen, er konnte ja nicht ewig hier herumliegen, setzte er sich auf. Die Dunkelheit war in jedem Fall sein Vorteil. Zudem hatte den Vorfall scheinbar noch niemand bemerkt. Es kam niemand angelaufen oder lief aufgeregt umher, um die unglaubliche Story von dem blassen, sich zu später Stunde in völliger Nacktheit befindlichen Typen im Krater auszulassen.
Wird es jedoch erst einmal hell, stehe ich dumm da. Ein Bild, welches er sich lieber nicht ausmalte.
Mit Kloß im Hals kam er zu der Erkenntnis, die Dinge, wohl oder übel, selbst in die Hand nehmen zu müssen. Eine Formulierung, die nicht recht passen wollte. Er musste dringend etwas zum Anziehen finden, oder zumindest etwas zum Bedecken. Und los ging‘s. Auf der Suche nach etwas Abdeckmaterial, bewegte er sich in geduckter Haltung in eine beliebige Richtung. Änderte diese, suchte weiter, änderte sie abermals. Eine kleine Echse huschte über seinen Weg. Aber selbst wenn er sie dazu brächte sich festzuklammern … sie wäre einfach zu winzig und hatte zudem zu spitze Krallen. So verscheuchte er den Gedanken und die Echse. Schließlich musste er aufgeben. Außer ein paar trockenen Zweigen und viel Sand, gab es hier nichts, was sich zur Verhüllung seines Lendenbereichs eignete.
Nach kurzem Überlegen fasste er sich ein Herz, einen neuen Plan und schon erhob er sich zu voller Größe, wie der evolutionäre Uraffe beim ersten aufrechten Gang. Aber der hatte wenigstens Buschbewuchs zwischen den Beinen. In seinem Fall schirmten seine Hände das Offensichtliche mehr schlecht als recht ab, doch was sollte er sonst tun? Er brauchte Kleidung und das schnell. Ein Blick in die Ferne brachte auch keine neuen Erkenntnisse. Weit und breit keine Stadt, kein Dorf, Stall, Hotel oder Golfplatz zu entdecken. Nur Sand und Steine schlecht ausgeleuchtet in allen Richtungen. Wie sehr er sich auch anstrengte. Wohin sollte er nun gehen? Letztlich entschied sich für irgendeine Richtung. Im schlechtesten Fall lief er weiter in die Wüste hinein, im Besten, fand er jemanden, der ihm weiterhelfen konnte. Und dann entschied er sich um und für den besten Fall.
„Hey Mann, haste das auch gesehen? Dies mächtige Feuer, was vom Himmel gefallen is?“
Erschrocken stolperte er mit den Armen rudernd zurück und landete auf Staub und Stein. Wie aus dem Nichts war ein alter, klappriger Mann aus der Dunkelheit aufgetaucht und stand auf seinen Hirtenstab gestützt da. In Sekundenschnelle aus dem Boden gewachsen. Stocksteif und von der Erhabenheit eines alten, sehnigen Geißbocks auf seinem Lieblingsfelsen. Sein Herz raste und hämmerte in seinem Brustkorb gegen die Rippen.
„Haben Sie mich erschreckt, Mann“, gab er keuchend zurück und stützte sich auf die wunden Knie. Er hatte den bittersüßen Atem des Alten immer noch in der Nase und sog nun hastig die kühle Nachtluft durch die geweiteten Nasenlöcher ein.
Der Mond schob einige der Wolken beiseite und erhellte die Umgebung ein wenig mehr. In diesem Moment ließ der Alte seinen Silberblick schweifen, verharrte und schüttelte dann verständnislos den Kopf.
„Was bist ‘n du für einer? Zieh dir mal was an! Unappetitlich…“ Mehr zu sich selbst als zu dem Nackten, murmelte er: „Ich bin nur noch von Verrückten umgeben. Der Typ hat wohl nicht mehr alle Schäfchen beisammen.“ Ohne dass der Nackte etwas entgegnen konnte, erstrahlte plötzlich vor ihnen eine Lichtgestalt. Sie schwebte circa 30 cm über dem staubigen Boden und ihr gleißender Schein überflutete sie wie zehn Sonnen. Es brannte in ihren Augäpfeln, doch sie konnten nicht umhin die Gestalt unverhohlen anzustarren. Offenmundig standen sie, von Angst gelähmt, reglos da und waren vollkommen vereinnahmt von diesem Moment der Erleuchtung. Mit zur Seite ausgestreckten Armen und nach oben gerichtetem Gesicht wiegte die Gestalt leicht im Wind. Sie trug einen goldenen Brustpanzer und weiße, wallende Tücher um die Hüften. Wie ein riesiges Kreuz stand sie in der klaren Luft des Abends, erhaben an den schwarzen Hintergrund genagelt.
Mit einem Male klappten hinter ihr zwei mächtige Flügel zu beiden Seiten nach oben. Sie maßen sicherlich etwa 3m von Spitze zu Spitze. Die Schwingen ließen den Engel, was es zweifelsohne war, noch imposanter und furchteinflößender, doch eventuell etwas übertrieben, wirken. Die zwei nächtlichen Wanderer vergaßen vollständig das Atmen, als der Engel sie aus silbernen Augen anstarrte und mit ausdrucksloser Miene zu ihnen sprach:
„Fürchtet euch nicht!“ Weiter kam er nicht, denn der Alte brach augenblicklich an seinem Stock zusammen, legte sich ungeschickt, in äußerst verkrümmter Haltung in den Sand und verstarb auf der Stelle. Engel und übergewichtiger Nackedei drehten gemeinsam die Köpfe zu ihm hin. Die von Magie und Mystik durchzogene Stimmung war dahin.
Besorgt stieg der Engel herab, das Leuchten verschwand und nun wirkte er, von den Flügeln mal abgesehen, wie ein ganz normaler Mensch, mit einem Hang zu protzigem Goldschmuck.
„Verdammt, nicht schon wieder“, sagte er in die kleiner gewordene Runde hinein. „Nicht, dass du mir auch abtrittst.“ Vergeblich tippte er mit seinem Finger auf die Stirn des Toten, doch nichts geschah. Sie schauten sich an, dann wieder auf den Toten und wieder sich gegenseitig. Die vorherige Angst des Menschen war verflogen. Vielmehr war er misslaunig, mit einem stetig wachsenden Wutpotenzial. Einige Sekunden später platzte es heraus.
„Schon wieder? Schon wieder? Was soll das heißen. Passiert dir das öfter?“
„Kein Grund zur Panik!“ meinte der Engel beschwichtigend, hob die mächtigen Hände und trat einen Schritt zurück. „Ich übe noch. So viel hatte ich mit den Menschen auch noch nicht zu tun! Hätte ja nicht ahnen können, dass …“
Pummelchen packte den fast zwei Köpfe größeren Engel an der Rüstung und schüttelte diesen, ohne an mögliche Konsequenzen zu denken. Mit Sicherheit konnte dieser göttliche Gesandte ihn mit einem Lichtstrahl ins Jenseits befördern oder in einen Wurm verwandeln oder schlimmeres. Doch darüber dachte er jetzt nicht nach, beschimpfte und riss an ihm, was das Zeug hielt:
„Du hast ihn getötet, für deine ‚Seht her, ich bin ein Gottgesandter und ihr müsst ehrfürchtig vor mir niederknien-Show‘? Du hast sie wohl nicht mehr alle, was? Ein durchgeknallter Engel, nachts in der Wüste von, ach was weiß ich, wo wir hier sind. Und er ‚übt noch‘ und es ‚konnte ja keiner ahnen‘!“ Plötzlich ließ er den Engel los und äffte diesen nach, während die Gestalt auf ihn herab schaute und eine Weile wartete. Dem Engel war die Situation sichtlich unangenehm und er ließ den wohlgenährten Menschling gewähren. Es brauchte einige Zeit, dann erwachte der Mensch scheinbar aus seinem Fluchdelirium. Wieder im Hier und Jetzt angekommen, schaute er sich um und ihm fiel wieder ein, dass er gar nicht wusste wo er und wer er war. Mit nacktem Hintern setzte sich resignierend auf einen Felsen. Der Engel setzte sich neben ihn. Sie ließen noch etwas stille Zeit vergehen. Der Mond schaute auf sie herab und ein Schaf kam herüber gelaufen. Sie kraulten es abwechselnd und dann meinte der Mensch:
„Hast du wenigstens was zum Anziehen dabei?“
„Zufällig ja!“ Der Engel griff sich mit einer Hand an den Rücken und reichte dem Mann eine grobe Tunika aus Leinen und Leder-Sandalen im Standard-Design. Dabei hoffte er, das weit geschnittene Kleidchen würde nicht so sehr spannen, hatte er doch mit einem etwas schlankeren Herrn gerechnet. Doch es ging, wie sich zeigte.
„Nun, da wir einen schlechten Start hatten, möchte ich mich erst einmal vorstellen. Gestatten: Gabriel, Erzengel, Bote Gottes und sein Marketing-Berater! Aber du kannst mich auch Gabb nennen!“
„Marke-was?“, fragte der frisch gebackene Tunikist.
„Du wirst gleich verstehen“, sprach der Engel und trat einen Schritt näher an den Mann, der bereits jetzt mit einem Stein in der Sandale kämpfte. Argwöhnisch wich er jedoch zurück:
„Nicht schon wieder so ein HokusPokus!“
„Nein, nein. Versprochen“, meinte Gabriel und begann zuerst schwächlich, ja regelrecht zaghaft und dann immer stärker zu leuchten. Seine silbernen Augen wirkten spiegelglatt und wie in Stein gemeißelt. Sie ließen jede Art von Mitgefühl vermissen. Hart, starr und ausdruckslos. Dann trat der Engel noch näher an ihn heran. Mit einer abrupten Bewegung in enormer Geschwindigkeit und einer Behändigkeit, die man dem Engel gar nicht zugetraute hätte, schnappte er zu und umarmte den überraschten Menschen. Dieser wusste gar nicht wie ihm geschah. Wie paralysiert stand er in der Umarmung der engelischen Schlange und spürte dessen unglaubliche Wärme. Eigentlich hätte der goldene, etwas zu dick auftragende Brustpanzer kühl sein müssen, doch mit Nichten. Vielmehr fühlte er sich wohlig warm und weich, fast flüssig auf seiner Wange an. Ihn umfing ein behagliches Gefühl. Als sich die federbewehrten Flügel vollständig um sie schlossen, durchfuhren ihn, außer dem Gedanken, dass sie, für einen unbeteiligten Betrachter einen durchaus homosexuellen Eindruck machten, die Erinnerung. Er schloss die Augen und vor ihm bildeten sich unglaubliche Bilder einer Umgebung und seiner Existenz, die er niemals hätte erahnen können. Pulsierende Lichtwellen ließen die Adern seines menschlichen Körpers anschwellen und sein Herz pumpte seine Vergangenheit in jeden Winkel seines Seins. Es war ein Gefühl von nach Hause kommen. Der Knoten der Unkenntnis über sich selbst zerbarst unter dem Druck der Erinnerungen. Irgendwann sackte er schwach zusammen und Gabb legte ihn behutsam ab.
Die heißen Sonnenstrahlen weckten ihn. Das Blinzeln mit Sand im Auge gestaltete sich schwierig und schmecken tat er auch nicht besonders. Mühselig entfernte er die Körnchen und glaubte einen ungemein seltsamen Traum gehabt zu haben, als Gabb in einiger Entfernung über die Düne kam. Er setze sich auf und lehnte im Schatten an einen Felsen. Die nackten Füße im heißen Sand. Müdigkeit schlief noch auf seiner Brust. Er wollte sie nicht wecken. Plötzlich befiehl ihn die Erinnerung an letzte Nacht wie eine hungrige Hyäne das Aasbüffet. Der alte Mann, das Schaf, mit Gabb kuscheln, die Erkenntnis der Sohn Gottes zu sein, ohnmächtig werden, mit Sand in der Kehle aufwachen … Er zuckte zusammen. Moment mal! Sohn Gottes? Was? Wie kam er denn darauf? Er grübelt angestrengt und fand in seinem Kopf einen ganzen Honigpott voll Vergangenheit. Er war Zeit seines Lebens im Himmel gewesen. In Gedanken schritt er durch das hohe Himmelstor, am Ende der gigantischen Rolltreppe. Weiße Wolken umflossen ihn und bildeten über und unter ihm einen wahrhaft himmlischen 3D Effekt im gesamten Farbspektrum. Auf einigen standen Villen aus weißem Marmor, aus verschiedenen, teilweise noch nicht angebrochenen Erdepochen. Andere trugen Schwimmbäder, Kindergärten, Spielwiesen für Hunde, Lamas und AlbinoChamäleons mit einem Hang zur Telekinese. Es gab aber auch Nurhundewiesenwolken und Nurkatzenkratzbäumewolken. Wieder andere beherbergten kleine Meere mit großen Dinosaurierfischen, große Seen mit kleinen Goldfischen. Dschungel ohne Rodungsarbeiten, Steppen ohne Steppenwölfe, Wüsten mit Ordnung oder wüst durcheinander, Dünenlandschaften vor ausgetrockneten Meeren oder riesige Steinhaufen aus Steinen, zwischen denen sich Steinsalze auf den nächsten Regen freuten. Zur Unterhaltung oder Beschäftigung der zahlreichen Bewohner gab es Konzerthallen, Stadien, Vergnügungsparks, Bibliotheken, Universitäten und Verwaltungsgebäude für die ehemaligen Beamten, die das ‚Arbeiten‘ nicht lassen konnten. Forschungseinrichtungen, Telefonzellen um sich bei irdischen Seancen einzuklinken usw. usw. Es gab nichts, was es nicht gab. Zudem verschmolzen die Wolken miteinander, bildeten andersartige Gebilde, Gebäude und Landschaften. Ein wilder Reigen in immer neuen und aufregenden Formen, die jede Sekunde zum Erlebnis machten. Dann trennten sie sich wieder, um sich erneut zu gestalten.
Dazwischen Harfe spielende Engelskinder, die Erzengel und natürlich die Ex-Erdies, die Verstorbenen von unten. Jedem wurde jeder Wunsch aus den Gedanken gelesen und materialisierte sich. Jeder schuf sich hier sein eigenes Himmelreich. Bei all den Überlegungen wurde ihm schwer ums Herz. Er hatte alles, was er brauchte, um sich die Zeit zu vertreiben. Sein 360Grad Fernseher mit der Gedanken-Spielekonsole und dem Foodprinter, mit dem man sich alles was man gerade haben wollte, ausdrucken konnte. Seine Freunde, die sich zu Besuch dachten oder zu denen er sich dachte. Konzerte, ferne Welten, Spaß! Jahrhunderte mussten so vergangen sein. Das Einzige, was ihm jedoch nicht einfiel, war, wie er in Dreiantigottesnamen hierhergekommen war. Dann kam ihm Vater in den Sinn, der ihm mehr als einmal prophezeit hatte, dass sein Herumlungern irgendwann ein Ende haben würde. Er müsse erwachsen werden, hatte er gesagt. Doch er, Gott-Junior oder GJ, hatte immer müde gelächelt. Schließlich hatte Vater wohl doch sein Vorhaben in die Tat umgesetzt, dachte er bitter.
„Wie geht’s heute?“, riss ihn Gabb plötzlich aus seinen Überlegungen. Gekleidet in handelsübliche Tunika und Sandalen, trug er einen Turban auf dem Kopf und hielt einen Eimer in der Hand. Von den mächtigen Flügeln war nichts zu erkennen. Er sah ohnehin verändert aus. Während er ihn gestern Nacht noch wie ein Hüne um zwei Köpfe überragt hatte, schien er kleiner, schmächtiger und menschenähnlicher denn je. GJ zog die Augenbrauen hoch und starrte den Engel misslaunig an.
„Irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte dieser, stellte den Eimer ab und hockte sich neben ihn.
„In Ordnung?“, gab GJ zurück. „Nichts ist in Ordnung. Was soll das Ganze hier? Was ist mit mir geschehen? Hast du das alles hier eingefädelt?“ Er machte eine umfassende Handbewegung. Der Engel antwortet:
„Ja und Nein!“ GJ schnaubte verächtlich:
„Das habe ich mir gedacht! Genauso kenne ich euch Erzengel. Ihr kommt immer direkt auf den Punkt!“ Gabb:
„Du erinnerst dich?“
Eine Pause entstand. GJ machte es spannend.
„Ja“, gab er dann zu, „ich erinnere mich. An mein wunderbares, sorgenfreies Leben, den Himmel und alles was ich nun, dank DIR, nicht mehr habe.“
„Dem Herrn sei Dank. Hab ich es also doch geschafft!“ freute sich der Engel. GJ aber:
„Geschafft mich mächtig sauer zu machen? Oder mir die Erinnerung zurückzugeben?“
„Das mit der Erinnerung, natürlich. Wie gesagt, ich übe noch. Bin noch nicht lange göttlicher Bote im Dienste des Herrn!“
„Hm. Na dann“, war das Einzige, was GJ dazu erwiderte. Er hatte im Moment keine große Lust sich die Lebensgeschichte von Gabb erzählen zu lassen. Und dann begann Gabb zu erzählen. Über Gott und seinen Plan ihn auf Erden erfolgreicher zu vermarkten und:
„..naja, dann habe ich dich, nachdem ich dich betäubt hatte, einfach in die himmlische Luftschleuse gesteckt und ZACK!“
„Du hast WAS?“ GJ stand auf und beugte sich mit geballter Faust über sein Gegenüber. Dieser Engel erweckte Empfindungen, die er noch nie zuvor in sich hatte aufkochen lassen.
„Na irgendwie musste ich dich doch hierher bekommen. Du bist Teil des Ganzen. Du machst mit!“, erklärte sich Gabb nicht im Mindesten eingeschüchtert, dafür aber selbstüberzeugt.
„Ich mache gar nichts mit. Ich… ich… ich fasse es nicht. Und Vater hat sein Einverständnis gegeben? Tss. Das sieht ihm ähnlich.“ GJ drehte sich weg. Er hatte so eine Wut im Bauch, dass er sich kaum zu beherrschen wusste. Dass dieser Engel sich den ganzen Mist ausgedacht hatte, war schon schlimm genug. Wahrscheinlich wollte er sich damit bei Vater profilieren oder so was. Von wegen: ‚Schau her, Gott, du hast den Richtigen für diesen Job ausgewählt. Wenn mein Vorgänger so eine Pfeife gewesen ist, ich bin es nicht‘. Aber das es auf seine Kosten, hinter seinem Rücken und mit Vaters Absegnung geschah. Das war zu viel. Er machte einen Satz und sprang dem Engel unvermittelt vor die Linse. Ganz dicht vors Gesicht. Sie waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und jeder spiegelte sich, unnatürlich gekrümmt, wie im Spiegelkabinett, wo die dicke Frau für ein paar Stunden mal so richtig Model spielen kann, in der Pupille des anderen. Die Luft knisterte zwischen ihnen und GJ zischte wie ein Ameisenbär beim Mittagsschlaf:
„Und jetzt … bringst du mich wieder hoch, hast du verstanden?“ Ein Zähneknirschen schnitt sich durch die entstandene Stille. Selbst die Grille ward nun stille. Gabb unterdrückte das Blinzeln, hielt den Atem an und sagte langsam und bedächtig, mit ruhigem Ton:
„Ja und Nein!“ GJ schloss bedächtig die Augen, zwang seinen quadratischen Gefühlsklumpen herunter und richtete sich gemächlich auf. Gabb setzte nach:
„Also, ähm, verstanden hab ich schon, aber … das mit dem zurückbringen ist so ne Sache.“
Der Sohn Gottes brauchte einige Sekunden um sich zu fangen. Er hatte es geahnt. Tief in seinem Innersten hatte er es geahnt. So schnell kam er aus dieser Nummer nicht heraus. Ohne ein weiteres Wort kletterte er auf einen großen Felsen, legte den Kopf in den Nacken und begann aus vollem Halse an zu schreien:
„VATER. Hol mich sofort hier raus, verdammt. Das kannst du mir nicht antun.“ Nichts geschah.
„VATER!!! Allmächtiger, Herr aller Dinge, Erschaffer dieser Welt…“, usw. usw. So ging es eine ganze Weile, während die Sonne über den Himmel wanderte. Gabbs kleiner Einwand wurde mit rüden Blicken zerschmettert. Und so überließ er ihn seinen unbelehrbaren, lauthalsigen Schreien. Es variierte von Zeit zu Zeit, mit mehr oder weniger eingeschobenen Pausen, mal lauter, mal leiser, mal schriller und heiser, mal dumpfer, mal stumpfer, mit Flehen, über Betteln, Verwünschungen und Flüchen, bis hin zu Wimmern, Weinen, Stampfen, Drohen und allem, was ein Kind seinen Eltern noch so antun kann. Der Engel hielt sich strikt zurück und machte sich so seine Gedanken. Junior war ihm ein wenig zu unbeherrscht. Zudem hatte Gabb keine große Lust seinem neu gewonnenem, menschlichen Körper Schmerzen zufügen zu lassen. Sollte sich der göttliche Knabe erst einmal austoben. Später könnten sie mit ihrer Unterhaltung fortfahren. Dann würde er ihm auch endlich unterbreiten, dass Vater im Urlaub sei, was er ihm bereits vor Stunden hatte sagen wollen. Wenn er sich wieder beruhigt hatte, Hunger bekam und die Ausweglosigkeit seiner Situation begriff, würde Gabb ihm unmissverständlich klar machen, dass es definitiv besser sei, ihm und seinem Plan zu folgen, als sich hier unten 2000 Jahre die Zeit mit Steine sammeln oder Nationen versklaven zu vertreiben. Gabb wollte die Menschheit nachhaltig beeinflussen, ihnen ihren Gott näher bringen. Sie bekehren, oder zumindest das schlichte, schwierige Leben ein wenig erleichtern. Ihnen eine andere, bessere Sicht auf die Dinge bescheren. Das würde nicht nur Gott gefallen, sondern er würde sich einen sicheren Platz in der ehrenvollen Riege der Erzengel sichern. Seine Probezeit, so hatte er es mit Gott vereinbart, endete mit dessen Rückkehr aus dem Urlaub. Würde er dieses Sohn-Gottes-auf-Erden-Ding durchziehen, war er drin.
Er schaute herüber zu GJ. Dieser keuchte, auf die Hände gestützt, auf dem Felsen herum. Seine Wut schwand mit jedem Schweißtropfen der ihm aus den überanstrengten, Fettporen sickerte. Gabb spürte es instinktiv, nicht nur am Geschmack, der in der Luft lag. Ganz unvermittelt überspülte ihn eine Welle von Zweifeln. Als er den jungen GJ dort oben auf seinem Felsen knien sah, malte er sich plötzlich aus, wie es wäre, wenn die ganze Sache hier schief ginge. Was, wenn der Junge doch nicht mitmachte. Wenn der Sturkopf eigene Vorstellungen hatte, wie er seine Zeit verbringen sollte. Würde sich dann sein Plan ändern? Würde ihm der Junge, der wahrlich Gottes Sohn war, sogar seinen Plan sabotieren? Eigene Leute um sich scharen und einen ganz anderen Missionsgedanken säen? Gabb schüttelte den Kopf. So weit durfte es nicht kommen und er wischte die Gedanken fort, wie die Krümelreste des Kuchens von Tante Tilly auf der akkurat gehäkelten Tischdecke im zweiten Stock einer überaus teuren Seniorenresidenz um 1907 herum.
Aus dem Schatten des Felsens heraustretend, packte Gabb den Eimer und stiefelte hinauf zu GJ. Die nachmittägliche Sonne brannte noch immer stark vom Himmel. Wortlos griff er zu der Kelle im Eimer und reichte ihm das frische, kühle Wasser aus dem Brunnen. GJ schaute krebsgrimmig, nahm jedoch dankbar die Kelle, wie eine Friedenspfeife, entgegen und trank hastig mit tiefen Schlucken. Erst jetzt spürte er wie durstig er eigentlich war und was Durst bedeutete.
„Noch eine!“ presste er im Flüsterton heraus. Er hatte sich heiser geschrien. Gabb reichte ihm den ganzen Eimer.
„Trink. Das wird dir guttun. Dieser Körper ist anders, als alles, was du bisher gekannt hast. Er ist ein zerbrechliches Gefäß und du musst ihm ab und an Ruhe geben, damit er sich erholen kann!“
GJ nickte, plötzlich müde und träge.
„Lange können wir nicht mehr hier bleiben, die Sonne geht bereits unter und wir haben noch einen ordentlichen Weg vor uns.“ Auch das nahm der Junge einfach so hin. Seine Schimpftiraden hatten etwas für sich gehabt, dachte der Engel. Eine Stunde später brachen sie gemeinsam auf und es sollte ein denkwürdiger Abend werden.
Vom Regenbogen keine Spur
Die Sonne war bereits lange untergegangen und der Weg hatte sich doch als weiter herausgestellt, als Gabb vermutete. Beziehungsweise hatte GJ länger gebraucht. Keuchend schlurfte der Junge hinter dem Engel her und zog schlangenspuren durch den Sand. Die Wut war vollständig verflogen. Vielmehr hatte er sich im Laufe der letzten Stunden grundlegend gewandelt. Als sie losgingen wurde Gabb schnell klar, was für ein Typ GJ eigentlich war. Es hätte ihm von vornherein auffallen müssen, da der Körper eines Himmelbewohners auf Erden sich aus dessen Vorstellung und Charakter bildete. Wenn er sich den Knaben genauer ansah, schien er recht klein geraten, dafür Übergewichtig. Schwabbelig, mit einem Schritt zum Weichkäse treten. Seine unreine Haut vervollständigte das Bild von schlechter Ernährung und zu wenig körperlicher Betätigung. Für den Himmel hat das allemal ausgereicht, aber für die Mission, die sie hier vor sich hatten…
Aber eins nach dem anderen, dachte sich Gabb, als er den Jungen weiter antrieb:
„Komm schon, es ist nicht mehr weit! Hoffentlich sind wir nicht zu spät!“ Schweißnasse Haarsträhnen klebten GJ im Gesicht und er tropfte wie das Leck in der Titanic.
„Zu spät?“, hauchte er. „Wofür?“
„Wirst du dann sehen!“ erwiderte Gabb und zog den Sohn Gottes über die nächste Düne. Der Mond stand glücklicherweise am Himmel und ließ das Ziel erkennen.
„Da!“ GJ kniff die Augen zusammen. Kurzsichtig schien er auch zu sein, denn er konnte nichts erkennen.
„Wo? Was?“ Hätte Gabb ihn nicht gezogen, wäre er auf der Stelle zusammen gebrochen und eingeschlafen. Die Nachtluft verwandelte ihren Atem in kleine Schäfchenwolken vor ihren Gesichtern, aber dafür hatte GJ keine Augen. Völlig erschöpft kam er an einem alten Bretterverschlag, mitten im Nirgendwo an und Gabb klopfte vehement an die Tür:
„Hallo?“ Wehklagen und heftiges Atmen durchdrangen die groben Bretter der Hütte. Gabb hämmerte wieder. Das Stöhnen wurde zu Schreien und wieder zu heftigem Durchatmen. Aber niemand machte auf. Noch einmal schlug Gabb auf die Tür ein. Plötzlich wurde sie aufgerissen und ein breitschultriger Mann mit einem langen Messer, blutigen Fingern und roten Schlieren an Gesicht und Gewand erschien im Eingang.
„Was denn?!“ spuckte er ruppig, wartete nicht auf die Antwort, sondern drehte sich auf der Stelle um und verschwand wieder. Das Innere wurde von einer kleinen Feuerstelle erleuchtet, während sich Esel und Schafe gerade gute Nacht sagten. Aufgrund der natürlichen Artenvielfalt und verschiedener ethnischer Herkunft, wie der dazugehörigen, nicht vorhandenen Schulbildung, verstanden sie einander nicht, wussten aber alle was gemeint war. Gabb und GJ steckten die Köpfe herein. Der Wahnsinnige war GJ nicht geheuer und was ging hier überhaupt vor? Seine Sinne standen auf ‚OBACHT‘! Auf einem Strohhaufen in der Ecke lag eine, vor Blut nur so triefende Frau, vollständig entblößt, untenherum, wie sich unschwer erkennen ließ. Sogleich machte er einen Schritt zurück. In seinem Mund wurde sein Keuchen, durch einen Magensäure-Mittagessen-Mischmasch, gewürzt mit scharfem Unterton im rechten Zungenbereich, ersetzt.
„Steht nicht so herum. Wenn ihr schon da seid, könnt ihr mithelfen“, bellte der Metzger, der sich bereits wieder vor die Öffnung der Frau begeben hatte und mit dem Messer zu schneiden begann. Sein Rücken verdeckte die Arbeit, doch im gleichen Augenblick begann die Frau wieder vor Schmerzen zu stöhnen. GJ schüttelte schreckstarr den Kopf. Wobei sollten sie helfen? Beim Ausweiden oder der Zubereitung??? Was war das hier nur für ein kranker Mist? Während Gabb langsam näher trat, machte der Junge kehrt und übergab seinen Mageninhalt in den Sand zu seinen Füssen. Mehrfach.
Gabb wusste indes Bescheid. Er, der zwar von Menschengeburt gelesen, jedoch nie eine miterlebt hatte, legte ihre Taschen ab und trat vorsichtig zu der Schwangeren.
„Geht es Ihnen gut, Maria?“, fragte er vorsichtig.
„ICH KRIEGE EIN KIND, MANN. SEH‘ ICH AUS ALS OB‘S MIR GUT GEHT?“, keifte die Frau, von heftigen Wehen geschüttelt und gestoßen. Zu spät!?! Wir sind sogar zu früh. Das hatte ich mir aber anders vorgestellt, murmelte Gabb. Die Frau schrie nur:
„WAS?“
„Ähm, nichts!“ erwiderte er und hockte sich, um ihre hingestreckte Hand zu halten.
„Der Kopf ist bereits zu sehen!“ sagte der Mann vorm Kanal und schaute in die Runde, während er mit den Händen zu helfen versuchte.
„HOL ES ENDLICH RAUS, JOSEF. MACH SCHON!“ krächzte die Frau, während sie mit lautem AH und OH Gebrüll presste und Gabbs Hand umklammerte, sie quetschte und ihre scharfen Fingernägel darin vergrub. Josef gab ihr die Kräuter, die er soeben geschnitten hatte.
„Hier nimm das! Und jetzt mach … es kommt, Maria … es kommt …“ spornte er seine Frau an. GJ revidierte seine Meinung über den angeblichen Kannibalen, blieb aber für nach der Geburt auf alles vorbereitet. Im Augenblick kam er sich hilflos und verloren vor, trat aber nun ebenfalls ein. Den Mund am Ärmel abwischend, blieb er stehen und schwitze den Boden voll. Unfähig etwas zu sagen oder zu tun, versuchte er nicht auf den Geburtsvorgang zu starren, sondern schaute sich zaghaft um. Ein Stall, so viel war sicher.
Zwei Esel, zwei Schafe, zwei Hühner. Zwei Ratten huschten vorbei. Es dauerte einen Augenblick, bis er es realisiert hatte, dann sträubten sich die Nackenhaare. Ratten? Auch das noch. Er würde im Stehen schlafen müssen. Sein rettungsringbehafteter Körper würde ihm etwas anderes erzählen. An eine Wand gelehnt legte er sein weißliches Fleisch zu Boden und schaute sich argwöhnisch um, während er die Geburtsgeräusche zu verdrängen suchte. Das ging eine Weile gut, doch ein gewaltiger Plopp brachte nicht nur neue Geräusche mit sich, sondern die blut-, schweiß- und tränige Luft wurde, wie die Innenausstattung, mit umherspritzendem Fruchtwasser angereichert. Sofort meldete sich GJs leerer Magen und zog sich auf Fingernagelgröße zusammen.
Während das Baby langsam das Schreien einstellte und genüsslich an des Mutters Busen naschte, brachte GJ noch immer sein übel riechendes Stroh raus.
„Nimm dies hier auch mit!“ scherzte Gabb und zeigte auf den blutig, wässrigen Strohbrei vor der völlig erschöpften Frau. Josef lachte höhnisch. Dafür fingen sie sich vernichtende Blicke ein:
„Äußerst komisch, wirklich!“ Josef bettete das schlafende Kind behutsam in die Krippe und legte Feuerholz nach. Alles war glatt gelaufen, für eine Stallgeburt im Jahre 0. Dem Herrn sei Dank.
Als sie so beisammen um das knisternde Feuer saßen und aßen, erzählte Josef seine Geschichte:
„Jede verdammte Herberge brechend voll!“ schmatzte er und schob noch was Brot nach. „Die Halsabschneider haben doch gesehn, wie prall Maria aussah. Sicher wollten sie ihre groben Laken nicht besudeln. Für ein paar Münzen hätte aber jeder von Ihnen die Beine breitgemacht, wetten?“ Josef lachte verbittert in sich hinein. Verständnisvoll nickte Gabb zustimmend, während Josef weitersprach „… und da sind wir hier untergekommen.“ Er nahm einen Schluck aus dem Wasserschlauch. „Immerhin.“ Eine Pause entstand und plötzlich meldete sich GJ zu Wort:
„Wie geht es ihr?“ Josef stand auf und ging zu seiner Frau herüber:
„Sie schläft!“ Als er zurückkam wandte er sich an Gabb: „Ach übrigens: Habt Dank!“
Bevor dieser etwas sagen konnte, klopfte es an der Tür. Ein aufgeregtes Geplapper in hoher Stimmlage war zu hören:
„Das ist das falsche Haus, wenn man überhaupt von einem Haus sprechen kann, liebe Freunde. Das sieht mir sehr nach einem heruntergekommenen Schuppen oder Stall aus, und der Besitzer dieser Hütte hat sicher keine Lust, dass wir hier mitternächtlich, mir nichts dir nichts, aufkreuzen und dort einzudringen gedenken. Wer weiß, was er daherinnen gelagert hat und wir haben ihn nicht mal um Erlaubnis …“ Weiter kam der Blubbernde nicht.
Josef riss die Tür auf und drängte die Neuankömmlinge vor sich her:
„RUHE!“ flüsterschrie er dem dicklichen Klopfer auf die ledrige Gesichtshaut. Dabei tippte er mit spitzem Finger in die wulstige Schulter, die jeden Widerstand aufgab und den Finger aufnahm bis zum Mittelgelenk. „Mein Neugeborenes schläft und IHR“, Josef schaute in die Runde der Drei, „werdet es nicht wecken, VERSTANDEN?“ Die drei Reisenden waren vollkommen überrascht, ob dieser rüden Begrüßung, da sie doch zur Geburt des Heilands gekommen waren. Der Klopfer machte den Mund als erster auf:
„Guata Mann, mia san von sehr woit komma um …“
„Das ist mir vollkommen egal. Wir sind überbelegt und …“ Ein hochgewachsener, schlaksiger Mann mit tiefschwarzer Hautfarbe unterbrach Josef, unter Zuhilfenahme eines bedeutungsvollen Räusperns:
„HRHRM. Bitte, bitte“, beschwichtigte er den muskulösen, neu gebackenen Vater. „Wir haben Geschenke dabei!“ Gabb und GJ streckten die Köpfe aus dem Eingang. Und die Nummer zog. Sobald diese Worte fielen, schwenkte Josefs Stimmung um und er entspannte sichtlich. Bei seinem aufhellenden Gesicht, lockerten die drei Gestalten auch auf und der Dicke begann Neuem:
„Mia san also von sehr woit her, un san komma ums Kindle zum sehe.“
Josef kräuselte die Stirn:
„Woher wisst ihr vom … Kindle?“
Der kleine, drahtige meldete sich nun und schoss die Worte in die Nacht hinein:
„Das ist so, uns ist ein Engel erschienen und der meinte so: FÜRCHTET EUCH NICHT.“
GJ drehte Gabb fragend den Kopf zu. Schmunzelnd zuckte der mit den Schultern.
„…der hat uns erst auf den Trichter gebracht, loszuziehen, weil er meinte, wir könnten uns den Heiland ansehen, den König der Juden, den Erlöser, den …“
Der Wuchtige führte fort, da der Drahtige nach Luft schnappte. Solche Gelegenheiten ergaben sich nicht allzu oft:
„I sollt Ausschau holtn nd da hob i voageschtern die Steanschnuppn gsehn. Is nich weit von hia niadakumme. Da hammas sackerl packt un san loasganga un hia glandt! In Bethlem.“ Mit kurzem Finger auf den Stall zeigend. Josef legte ihm versöhnlich den Arm um die Schulter:
„Um noch mal auf die Geschenke zu sprechen zu kommen.“
„Erst das Kind, dann die Geschenke! So lautet der Deal!“ diktierte der schwarze Mann in seinen lang gezogenen Seidenkleidern, die mit jedem Schritt raschelten, wie noch nicht erfundene Plastiktragetaschen. Mit hochgezogenen Augenbrauen und steifem Gesicht schaute er von oben herab auf Josef. Die Art, wie er mit ihm sprach, schmeckte diesem überhaupt nicht, aber mit der Aussicht auf Geschenke, hoffentlich waren sie wertvoll und reichhaltig, hielt er sich zurück und gab sein Einverständnis. Sollten sich die drei Kuriositäten den Jungen ruhig ansehen, aus welchem Grund auch immer. Und dann sobald wie möglich verschwinden. Viel zu befürchten hatte er von ihnen ohnehin nicht, da er mehrfach körperlich überlegen war:
„Aber leise, ihr feinen Herren“, vor allem an das Plappermaul gewandt. So traten die Drei, Weisen wie sie sich bezeichneten, ein und beschauten sich das Neugeborene, wie es schlief und schlummerte. In Seligkeit und Anmut, wie einer von ihnen sich einbildete.
Als sie sich sattgesehen hatten und wieder draußen waren, übergaben sie ihm drei Bündel mit „Kostbarkeiten“ und verabschiedeten sich freudestrahlend. Aber nicht in die Richtung, aus der sie gekommen waren, sondern nahmen einen anderen Weg, um ihre Spuren zu verwischen. In Wahrheit hatte sie der Herrscher des Landes, Herodes, geschickt, der sich wegen des „Königs der Juden“ mächtig in die Hose machte. Die Story vom Engel hatten sie von einigen ortsansässigen Hirten aufgeschnappt. Sie erschien ihnen viel erfolgversprechender, um das Kind zu Gesicht zu bekommen. Die Wahrheit hätte unnötige Fragen aufgeworfen.
Zufrieden über ihren Erfolg und völlig übermüdet stapften die drei Weisen weiter durchs Ödland, direkt in die Arme ihres Gebieters, wie sich später herausstellen sollte.
„WAS?“ Josef war außer sich. Er schleuderte ein Bündel nach dem anderen in eine Ecke des Stalls. Der linke Esel wackelte bereits mit dem Ohr und das rechte Schaf öffnete ein müdes Auge. Es stank erbärmlich in der Unterkunft.
„Weihrauch, Myrre und Minze? GESCHENKE? Diese … diese …“ Josef lief rotbraunviolett an, atmete dann aus und sog die Luft wie ein Wahnsinniger in sich auf. Im Stall entstand ein Sekundenvakuum. Das Baby begann zu schreien und Maria, die gerade aufgewacht war, herrschte ihren Mann an:
„JOSEF, jetzt ist Schluss. Du hast bereits das Baby geweckt. WAS um alles in der Welt ist denn los?“ Während die drei Weisen zur Besichtigung gekommen waren, hatte sie tief und fest geschlafen und wurde nun von einem tollwütigen Ehemann aus dem Schlaf gerissen. Josef hielt wieder den Atem an und gab Maria das kleine Häufchen Mensch auf den Arm. Dann stürmte er heraus in die Nacht. Das Baby schlief binnen kürzester Zeit wieder ein.
„Ob er sich die Vögel von gerade schnappen will?“, flüsterte GJ. „Und was war das eigentlich mit dem ‚Fürchtet euch nicht‘ von dem die Weisen gesprochen haben!“ Eigentlich hatte Gabb keine große Lust sich zu erklären, entschied sich aber dagegen. Wenn alles nach Plan lief, hatte er in ein paar Minuten einen Partner. Und mit einem Partner teilte man:
„Ich weiß nicht, wo sie’s her haben. Habe nur ein paar Hirten in der Nähe Bescheid gesagt. Ist aber keiner umgefallen…“ grinste er achselzuckend. Der Junge war nicht amüsiert, aber informiert.
Er schaute zu Maria herüber. Diese schien weniger impulsiv als ihr Mann und genau die richtige Ansprechpartnerin für sein Anliegen:
„Maria?“
„Ja, Gabb?“ Ihre Blicke trafen sich und GJ fiel sofort die Vertrautheit darin auf. Eine Geburt schweißte wohl zusammen.
„Wie heißt eigentlich euer kleiner Sohn, der Fratz?“
„Ich bin für Jesus, obwohl es Josef nicht gefällt. Aber wir Frauen wissen uns durchzusetzten.“ Sie lächelte verschmitzt.
„So ist es wohl.“ Gabriel stapfte in die Ecke und holte die drei Bündel. In Kombination rochen sie schlimmer als Schafmist bei 40 Grad im Schatten unter dem Kopfkissen.
„Deshalb regt sich Josef so mächtig auf. Während ihr geschlafen habt, kamen drei Weisen aus dem Morgenland und wollten euren Sohn betrachten. Sie sagten es sei der Heiland/König der Juden und sie bringen Geschenke mit. Josef ließ sie ein und hoffte auf etwas Einträglicheres, als dies hier, möchte ich meinen.“
Maria staunte: „König der Juden und Heiland?“ In ihrem Gehirn knarzten hörbar die Zahnräder, dann fuhr sie fort. „Das könnte wahrlich unangenehme bis tödliche Verwicklungen mit sich bringen. Politisch ist das für eine Familie unseres Standes völlig untragbar. Wie sollen wir den Angriff eines politischen Gegners oder dessen Attentätern verhindern, geschweige denn adäquat zurückschlagen, um unsere gesellschaftliche Stellung, die wir zweifelsohne gar nicht erst besitzen, zu halten und zu verteidigen? Wer verbreitet einen solchen überaus gefährlichen Unsinn?“
Mit offenen Mündern saßen unsere zwei Helden in dem verdreckten Stall in Bethlehem und konnten die Redegewandtheit dieser einfachen Handwerksgattin kaum fassen. Gabb fasste sich als erster, GJ an den Kopf und kratzte:
„Ich habe keine Ahnung“, log der Engel. Unvermittelt kam Josef herein und setzte sich neben Maria aufs Stroh, wobei er sich die rechte Hand massierte. Sie sah geschwollen aus.
„Was ist mit deiner Hand, Josef?“, fragte Maria besorgt.
„Nichts, bin hingefallen“, gab er beiläufig an. „Was läuft hier?“ Er schaute in die Runde. Maria sprach ernst:
„Irgendwer verbreitet, unser Sohn wäre der Erlöser!“ Josef lachte leicht:
„Das haben die drei Wichtigtuer von gerade auch gesagt. Und Geschenke haben sie deshalb mitgebracht. Kräutergedöns.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Habs ihnen auch redlich gedankt.“ Er grinste verschmitzt. Maria machte ein besorgtes Gesicht:
„Es werden noch mehr kommen, Josef.“
„Denen danke ich dann auch!“ gab der breitschultrige Mann an.
„Josef. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Wir …“ Gabriel unterbrach die Diskussion:
„Freunde? Ich habe des Rätsels Lösung.“ Maria, Josef, sowie GJ und die Tiere waren gespannt. Mit einem behänden Griff in eine seiner Taschen, förderte der Engel eine ganze Handvoll Goldmünzen zu Tage. Josef funkelten die Augen. Maria setzte sich auf.
„Das“, er wedelte mit dem Minzesäckchen, „nehme ich an mich. Dafür lasse ich euch das Gold, im Austausch für …“ Er wurde rüde unterbrochen.
„Nein, kommt auf gar keinen Fall in Frage!“ Maria umklammerte ihr Neugeborenes und drehte es von Gabb weg. Josef ballte grimmig die Faust und wollte gerade aufstehen. Der Engel hob beschwichtigend die Hände:
„Aber nein! Heiße ich Rumpelstilzchen?“ Der Witz kam nicht an. Keiner kannte einen Rumpelirgendwas. Er fuhr fort. Die Eltern entspannten sich.
„Das Gold ist für den Namen!“
Nun waren sie baff:
„Jesus?“, fragte Maria. Josef kam nicht mehr mit und grinste nur noch, den Blick auf das Goldbündel gerichtet. Gabb hielt sich an die Frau.
„Jesus von Nazareth, ja. Nenne deinen Sohn wie du willst, aber nicht Jesus. Wenn dich jemand nach Jesus fragt, sagst du, es wäre eine Zwillingsgeburt gewesen und der Heiland sei bei einer Tante in Babylon oder Jericho, oder so was. Die drei Weisen brachten euch Weihrauch, Myrre und GOLD. Deshalb der plötzliche Reichtum. Kauft euch ein schönes Haus und zieht euren Sohn in Ruhe groß. Sie werden zu euch kommen und immer wieder Fragen stellen. Antwortet, euer Sohn Jesus kommt bei Zeiten wieder! Mehr nicht. Alles klar?“
Maria überlegte kurz, wurde aber sogleich von Josef unterbrochen. Das Glitzern in seiner Iris war wie Pulverschnee.
„Jap, so wird’s gemacht. Jericho, alles klar!“ Fordernd winkte er den Beutel heran, der sogleich den Besitzer wechselte. Josefs Aufmerksamkeit verlor sich im Sack. Wie schön sie klimperten!
Maria war scheinbar überstimmt, fragte jedoch:
„Warum?“ Josef antwortete statt dem Namenskäufer:
„Warum, warum. Muss denn immer alles hinterfragt werden? Der ehrenwerte Herr möchte den Namen“ Josef musste mitten im Satz wie ein Wahnsinniger kichern. Es war zu verrückt, der Typ hatte gerade einen Namen für Gold gekauft… „haben und bezahlt dafür in Gold. Was genau ist das Problem? Zudem wollten wir ohnehin keinen Jesus…“ Maria machte eine sauertöpfische Miene, erwiderte aber nichts mehr. Schließlich reckte Gabb die Arme in Luft und gebot ein:
„Es ist spät, wir sollten nun alle schlafen gehen!“ Dem hatte Niemand etwas hinzuzufügen. Wieder nickten sich Schaf und Esel zu. Nun verstand der schweigsame GJ gar nichts mehr. Warum das Ganze und was habe ich damit zu tun und was ist mit den Ratten und und und. Doch sein schlaffer Körper scherte sich nicht um irgendwelche Bedenken und schlief unverzüglich ein.
Der nächste Tag begann mit einer zünftigen Mahlzeit für Groß und Klein. Gabb zauberte frisches Brot aus seiner Tasche, machte Minz-Pfannkuchen und Minztee und Maria ließ die Brüste für Nicht-Jesus kreisen. Alle freuten sich über die Sonne, die seit nunmehr 288 Tagen ununterbrochen schien, und genossen die staubig trockene Luft, die in jede Ritze des Stalls hineinzog. GJ erwachte mit Kopfschmerzen.
„Aufstehen, Sonnenschein!“ Der Engel war bester Laune.
Der Sohn Gottes grummelte in den 2 Tagebart und drehte sich einmal mehr herum. So frühes Aufstehen, gepaart mit guter Laune war ihm unverständlich und –erträglich.
Nach dem Essen brachen die beiden Abenteurer wieder auf. Josef kauerte wie ein Leprechaun in einer Ecke und bewachte seinen Sack voll Gold. Vom Regenbogen keine Spur.
Gabb umarmte Maria und flüsterte:
„Bleibt bei der Geschichte. Es ist zu eurer eigenen Sicherheit!“
Dann strich er dem Neugeborenen über die Wange. Unbemerkt drang ein bisschen Engelsenergie durch die zarte Haut ein. Der Junge würde für lange Zeit von Krankheit verschont bleiben, wie sich später herausstellen sollte.
GJ verabschiedete sich artig und schob sich alsbald ebenso mühselig wie gestern durch den Sand.
„Und jetzt kannst du mir mal erklären, was da eigentlich abgegangen ist!“
„Ich gratuliere“, sagte der Engel grinsend. „Du bist nun ein richtiger Mensch, Jesus. Ab heute bist du Jesus von Nazareth!“
Die 11 a.m. Runde
„Er is jetzt da! Wo möchten Sie ihn hin haben?“ Ein Koloss von Mann, eingezwängt in einen weißen XXXXL Kittel (die gab es nicht größer), hielt die Türklinken der 5m hohen Doppeltür in Händen, als ob es die eines Puppenhauses wären. Der gigantische Kopf runzelte 60 cm Stirn in Falten. Der Rest von ihm wartete auf Anweisung und schaltete ab.
An ihrem XXL Palisander-Schreibtisch ihres XXXL Büros, saß Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching und studierte ein paar Akten. In der einen Ecke des Altbau-Raumes stand eine moderne Sitzgruppe mit der obligatorischen Couch auf einem schneeweißen Teppich. Eine Chrom-Standlampe spendete kaltes Weißlicht. Die andere Ecke füllte ein kleiner Coffee-Bereich mit Vollautomat und einem Stand-Bistrotisch, ebenfalls in Chrom gehalten. Neueste Entdeckung aus den N.U.S.A. Die Patienten redeten entspannter und offener, wenn sie standen und Kaffee tranken. Das Büro war natürlich nur für die privaten Patienten, die gewöhnlichen Bewohner hatten hier nichts zu suchen und noch weniger zu finden. Ein Staubkörnchen oder Dekorationstant suchte man hier vergebens, alles wirkte sehr steril mit viel Glas, Chrom und ein wenig Holz, überwiegend in Weiß und Schwarz gehalten.
Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching schaute von ihrer Lektüre über die halben Brillengläser zur Türe herüber. Ein besonders exquisites Model mit Kristallglas und einem Brillenrahmen aus titanverstärktem Designkunststoff der Marke Flucci. Das Modell Green Savannah war ihre Lieblingsbrille und sie kam sich damit noch unwiderstehlicher vor, als ohnehin schon. Wenn man die Doktorin so anschaute, musste man zweifelsohne zugeben, dass sie trotz ihres Alters von nunmehr 46 Jahren, durchaus zu den attraktiveren Exemplaren der Gattung Frau zählte. Und das wusste sie auch einzusetzen. Adrett gekleidet wirkte sie stets kühl und gefasst, hatte beruflich bereits einiges erreicht, glaubte jedoch, ihre besten Jahre stünden ihr noch bevor. Mit gekonnter Langatmigkeit sagte sie dem Arbeitstier:
„Führen Sie unseren Guest bitte direkt in den Spiegelsaal. Die 11 a.m. Runde beginnt gleich. Ich möchte ihn den anderen directly vorstellen. Es gibt doch keine Problems mit ihm?“
Die tiefe Stimme des Betreuers dröhnte wie eine Diesellok aus dem üppig mit Luft gefüllten Kopf und Altbau:
„Er is unfällig und ruhich. Wir ham ihm nix geben. Is freiwillich mit!“ Ein theatralischer Seufzer, der sogar sich selbst als übertrieben empfand, entfuhr ihr. Diese Stumpfsinnigkeit war ihr mehr als zuwider. Für einfache Aufgaben, wenn es ums Grobe ging, waren die Muskelprotze ihrer Belegschaft unerlässlich. Manchmal musste ‚Guest‘, wie Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching die Bewohner nannte, nun mal der Vernunft und Sedierung zugeführt werden. Doch ein Gespräch, auch wenn es noch so kurz war, strengte mächtig an. Frau Doktor setzte sich auf und die Brille zurecht.
„Well! Bringen Sie seine Sachen in Zelle 23. Die ist doch wieder clean und einsatzbereit?“
„Selbstständlich!“ plumpste es aus dem Riesen auf den Boden und er wartete auf das abschließende Nicken von Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching. Und da rollte es auch schon heran. Fast unmerklich, auf die 9m Distanz zwischen Tür und Schreibtisch. Obwohl Nr. 445 damit gerechnet hatte, dauerte die Verarbeitung des Gesehenen eine Weile. Wenn man hier arbeitete, musste man ein Gespür für derlei winzige Winker und Zucker bekommen, die alle etwas zu bedeuten hatten. Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching war keine geduldige Frau, da war man schneller weg als man bis 3 zählen konnte, wozu hier ohnehin die wenigsten in der Lage waren. Die Doppeltüre schloss sich wieder und die Ärztin beäugte ihre goldene Holce und Banana-Uhr. Ein großer Diamant schob sich schwerlich auf die 12 zu. Der Kleine stand, wie immer, dem Großen nach, auf der 11. Im Allgemeinen schien dieser von ungeheurer Trägheit beseelt, da der Große ihn ständig überrundete, so circa ein Mal die Stunde. Doch so genau hatte die Ärztin sich damit nie beschäftigt. Die Uhr war schön und teuer, das reichte. Zudem hatte sie wesentlich Wichtigeres zu tun. Ihr Kopf drehte sich und sie laß die Zeit von der Digital-Wanduhr ab. Dann erhob sie sich und stakste in ihren 10cm Pumps zur Tür. In ihrer weißen Bluse wippten die üppigen Brüste und die schwarze Strumpfhose gab ein leises Rascheln wieder, wenn sie über den engen, kurzen Rock aus grauem Stoff rieb.
Zeit zur 11 a.m. Runde, Emily, sagte sie sich und ging hinaus.
Die doppelt verstärkte Glastür öffnete sich und herein traten einer dieser Weißkittelgorillas, der sich auch prompt am Eingang postierte und zwei pumpsbewehrte Strumpfstelzen mit Frau Doktor oben drauf. Im Stuhlkreis wurde es still. Alle musterten Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching. Mit einem kleinen Knopf wurden die großen Glasflächen, die ringsherum den Raum bildeten, auf undurchsichtig geschaltet. Diesen Moment hasste Arnold G. im benachbarten Aufenthaltsraum, der unverzüglich, wie jeden Tag, außer mittwochs, wo er seine Medizin früher bekam, weil er in den Garten durfte, mit der flachen Hand auf die 3te Scheibe von links schlug:
„Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching …“ TOCKTOCKTOCK „… Sin Sie da drinn?“ TOCK. Ein schwacher Schatten seines gesamten Gesichts erschien hinter dem blinden Glas. TOCKTOCK.
„Machen Sie ma PIIIEP!“ rief Arnold und lachte laut. Mehrfach. Schrill. Und noch mal. Im Normalfall hörte das ganze Spektakel nach ein paar Minuten auf, doch die Ärztin, die bereits die Beine übereinandergeschlagen hatte und ihren Notizblock hielt, wollte anfangen. Eine winzige, kaum zu registrierende Bewegung ihres Kopfes, ließ den bodyverbuildeten Ochsen an der Tür auf Arnold G. los. Behände huschte er in den Aufenthaltsraum und Sekunden später fand sich Arnold auf einer Pritsche im fensterlosen Ruheraum, Mittagstabletten kauend, wieder. Heute würde er Folge 67 von Ride Knighter verpassen, wo das Pferd mit eingebauten Federhufen über einen 3m hohen Koppelzaun sprang. Dieser Verlust würde ihm erst später bewusst werden und für 2 Wochen aus der Bahn werfen. Sei es drum.
„Let’s Go, liebe Leute“, eröffnete die Ärztin endlich die Gesprächsrunde und spornte ihren illustren Kreis schwer zu behandelnder Psychiatriepatienten an. Die Gesichtsausdrücke reichten von wolkig bis permafrostig. Es war eine kleine Gruppe von fünf Guests. Einschließlich des Neuzugangs. Unbeirrt grinsend hob sie, vor allem an den Neuen gewandt, an:
„Hello! Ich bin Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching, für alle, die mich nicht kennen.“
„Is doch nur DER da!“ rotzte jemand in die Mitte. Es war ein Mann, dessen Halbglatze lieblos mit langen, zu einer Seite gekämmten und fettige Strähnen kaschiert wurde. Auf seinen Handrücken prangten tätowierte Katzenköpfe und er bemühte sich um den Eindruck völliger Fehlamplatzigkeit, was jedoch kläglich misslang. Viel eher würde man ihn in Hexas in einem kleinen Raum mit vielen Zuschauern, einem amtlichen Arzt und einer muskulösen Injektionsvorbereitungstruppe vermuten. Doch er saß hier.
„George. Tuen wir that?“, maßregelte Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching ihn vorgebeugt. Die Zwillingsberge ihres 10.000 Münzen Dekolletés kippten vorn über. Das blonde Mädchen neben George schaute verstohlen, aber für jedermann auffällig, in den Grand Ganyon Nachbau. Schließlich bemerkte es auch die Ärztin:
„Milli!“ sagte sei entrüstet und zog zurück, als wenn diese Situation nicht vorherzusehen war.
„Ich habe doch F … Fortschritte gem … m … m … macht. Aber … i … in letzter Zeit ist es … ss … s … ssooo sch … schwer“, rechtfertigte sich das Mädchen, so gut es ging. Sie schaute dackelblickig in die Runde. Von Links, neben der Doktorin, kam ein herablassendes:
„TSS!“ Das schwarzhaarige, schwarz gekleidete Mädchen hockte üppig desinteressiert mit angezogenen Beinen, das Kinn, wie auch der Rest von ihr, in totenähnliche Blässe gehüllt, da. Daneben wiederum saß ein dicklicher Junge mit Brille und starrte still zu Boden. Alles in allem eine vollkommen normale Therapiegruppe.
„Ruhe! Back to start, wir fangen noch mal an“, ordnete die Ärztin an und rückte ihre Halbbrille auf der Nasenspitze in Positur. „Oder noch besser“ sie griff plötzlich unter ihren Stuhl und holte einen Tennisball mit Irokesenschnitt und aufgemaltem Grinsegesicht hervor. Es wirkte asiatisch, obwohl es ein Hilson war. Verquere Welt, dachte der Neue.
„Who etwas zu sagen hat, bekommt Telly. Den TellBall!“ erläuterte sie nochmals für alle. Sicher war sicher. „Wer den Ball nicht hat, muss schweigen. So lautet die Rule.“
Alle Anwesenden, außer dem Neuen, verdrehten die Augen. Rechtsdrehend. Kommentiert wurde nicht, darüber waren sie hinaus. Sogleich klatschte Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching einmal in die Hände:
„OK, Dears!“ Sie übergab den Ball an den Neuankömmling und forderte ihn auf sich selbst vorzustellen. „Nur nicht so shy. Wir sind alle harmlos!“
Der Neuling, der sich bereits ein grobes Bild von der Gruppe gemacht hatte, richtete sich auf, holte tief Luft, spannte die Armmuskeln und schmetterte den ahnungslosen Telly mit voller Wucht auf die Nase des doppelbefleischten Jungen gegenüber, das es nur so schmatzte. Die dickrandige, schwarze Brille brach symmetrisch zwischen den Gläsern entzwei und fiel schneller zu Boden, als das Blut aus der gebrochenen Nase zu schießen vermochte. 1:0 für die Brille. Sofort war Kugelboy in Tränen aufgelöst, rutschte vom Plastikstuhl und ging auf die Knie, die Hände vors Gesicht haltend. Die Zeit schien einen Moment still zu stehen. Es brauchte einige Sekunden bis alle realisiert hatten, was da so eben geschehen war. Nach und nach zeigten die Umsitzenden mannigfaltige Reaktionen. George war als Erster völlig von den Socken und begann lauthals zu lachen. Dies rief wiederum Milli auf den Plan, die zuerst George und dann den Neuen mit unverhohlenen Verachtungsblicken strafte, obwohl sie sich den gut aussehenden Werfer bereits schwitzend auf und in sich vorstellte. Das schwarzhaarige Gothic-Girl rührte kaum an ihrer Ungerührtheit und die gefasste Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching wurde von einer unfassbaren Woge Ungefasstheit erfasst. Entsetzt sprang sie sofort auf und zuckte ihren Lakaien Nr. 34 mit einer Augenbraue herbei, der sich unverzüglich auf den Attentäter warf. Sekunden später wurde dieser in der Einzelzelle einem gut sitzenden Dämmerzustand vorgestellt. Sie freundeten sich an. Unterdessen brachte Frau Doktor dem Jungen, Namens Micha, ein paar Tücher aus chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier. Zwischen dessen Fingern quoll und spritzte das Blut nur so hervor. Dahinter blubberte es von noch mehr Blut, Rotz, Schimpfwörtern und Gejammer. Als sich die Stimmung auf 88 Grad abgekühlt hatte und George nicht mehr lachen musste, begann Milli wieder mit einem:
„Nja jirgendwjie süß war er ja sch…schon!“
„Kannst ja bald draufspringen, Schlampe“, giftete plötzlich Mrs Gothic.
„Ssaug du doch die B.B.Bljut von dem F…Fjetterchchen, chier… Der chat ja gen…nug davon, Sally-rella!“ keifte es zurück.
Ihre entfleuchende Gefasstheit umklammernd, löste die Ärztin die heutige 11 a.m. Runde auf. Erleichtert drängten alle aus dem Raum und Micha zur Krankenstation.
Gut im Schätzen
Seit einiger Zeit zog es Melly Brommer täglich nach der Arbeit zum Supermarkt. Nicht, dass er ihr Kühlschrank oder die Abstellkammer nötig gehabt hätten, nein, die waren restlos überfüllt. Mittags konnte sie in der Kantine von Synothex warm essen und abends gab es meist kalte Küche. Um ihren knochigen Körper zu ernähren brauchte es ohnehin nicht viel, ergo verbrauchte sie spatzische Mengen. Manchmal überkam es sie und sie machte etwas völlig Verrücktes. Nämlich Microstrahlen-Popcorn. Heimlich, bei ausgeschaltetem Licht. Mama sagte immer, es sei kein richtiges Essen und zudem sündiger Luxus. Aber selbst davon hatte sie noch genug im Kleiderschrank hinter den Handtüchern ihres zwei Zimmer-Appartements in der Innenstadt.
Ein weiterer Grund den Supermarkt zu besuchen wäre da noch der Monatsanfang, an dem sie, fast zwanghaft, immer einkaufen ging. Monatsanfang war, heute auf den Tag genau, zwei Wochen her. So stand Melly aus einem ganz anderen Grund an der Bushaltestelle und schaute nervös auf die bunte Armbanduhr, die sie seit ihren Kindertagen nicht abgelegt hatte. Es war 16:30 und der Nachhausebus, der gleichzeitig der Supermarktbus war, denn der Supermarktbus hielt in der Nähe ihres Zuhauses, da der Supermarkt ganz in der Nähe ihrs Zuhauses war, hätte bereits vor 25 Sekunden da sein sollen. Wo blieb er nur, dachte Melly und trat von einem Bein aufs andere. Dabei rutschte die schwere Hornbrille ein wenig den Nasenrücken hinab und veränderte den Einstrahlwinkel der intensiven, auf strahlend blauem Himmel prangende, Sonne. Mit zugekniffenen Augen spähte sie die stark befahrene Straße entlang, verwies die Brille mit ihrem Zeigefinger wieder auf ihren angestammten Platz. Ungeduldig reckte sie sich auf den Zehenspitzen nach oben, beugte hierbei die leicht schief gewachsene Wirbelsäule vor, als könnte sie noch weiter zwischen die hochaufragende Bürogebäudeschlucht blicken. Ihr kleiner, eng angelegter Rucksack, verstärkte noch den Eindruck eines Glöcknerbuckels mit Zwillingsvisage.
„Der Bus ist zu spät!“ sagte der adrette, junge Mann im Anzug, der wie durch Magie neben ihr erschienen war. Mel zuckte merklich zusammen. Schon wieder hatte er sie angesprochen. Dieser harmlos wirkende Kerl im feinen Zwirn. Gott bewahre mich vor seinen gierigen Klauen, dachte die junge Frau, als sie steif überlegte, was nun zu tun sei. Phold, wie sein Namenschild verriet, war ihr bereits vor Wochen aufgefallen. Plötzlich tauchte er an ihrer Nachhausebusbushaltestelle auf, genau um die Zeit, wann sie den Nachhausebus immer nach Hause nahm. Bereits diese Tatsache war Melly Brommer äußerst merkwürdig vorgekommen. Irgendwann jedoch, sie hatte sich gerade daran gewöhnt, wurde sie von ihm auch noch im Vorübergehen gegrüßt. Hinterhältig grinsend, wie Mel fand. Mehr als eigenartig, hatte sie gedacht. Denn sie wurde nie von Fremden gegrüßt. NIE. War quasi unsichtbar. Seitdem schrillten bei ihr täglich die Alarmglocken, wenn sie ihn sah, und machte einen entsprechenden Bogen um den gut aussehenden Jüngling, mit braungelocktem Haar. Vor solchen Typen musst du dich in Acht nehmen, mein Kind, hatte ihre Mutter ihr eingebläut, als sie vom Land in die Stadt zog. Es sind die netten, harmlos Wirkenden, die dir das größte Leid bescheren. Ihre widerlichen Klauen strecken sie nach dir aus und verführen dich und ziehen dich hinab in die Hölle und legen dich in des Antigottes Schoss. Habe ich alles schon gesehen. Gott ist mein Zeuge, hatte ihre Mutter geschworen und sich zigfach bekreuzigt. Und jetzt, wo sie die ganze Zeit nur ihren Bus zum Supermarkt im Kopf hatte, hatte Phold es wieder getan. Nun galt es die prekäre Situation schadlos zu überstehen und angemessen zu reagieren, um dem Antigott und seinem Helfershelfer und seinen gierigen Klauen ein Schnippchen zu schlagen.
Spiele deine Trümpfe aus, Mel, dann wird er das Interesse verlieren, dachte sie und drehte leicht den Kopf zu ihm hin. Langsam, zeitlupig, zog sie ihre dünne Oberlippe übertrieben hoch und gab den Blick auf die silbrige, feste Zahnspange und üppig freigelegtes Zahnfleisch frei. In der Hoffnung noch Reste vom Mittagshühnchen am Zahnzaun hängen zu haben, streckte die Buckelige den Kopf noch weiter vor, um ihr schönstes Pferdegebiss zu machen. Dabei schüttelte sie ruckartig zuckend den Kopf hin und her, und meinte höflich:
„HÄ?“ Die Idiotin zu spielen hatte noch jeden in die Flucht geschlagen. Zuerst passierte nichts. Der junge Mann wusste kaum wie ihm geschah und starrte Mel auf den irren Gesichtsausdruck. Wie sie so dastand, mit ihren 1,72m und 55kg, hätte man sie auch direkt ins Filmset von ScareCrowZombieTerror Teil 4 stellen können.
„Entschuldigen Sie!“ stammelte er, sichtlich verwirrt und trat einen Schritt zurück. Die erste Idiotenwelle zeigte Wirkung. Mel hielt weiter drauf:
„HÄ?“ Das war zu viel. Phold ergriff, um Fassung ringend, die Flucht und stellte sich weiter hinten zu den anderen Wartenden bzw. versteckte sich hinter ihnen. Einige Sekunden hielt Mel die Fassade aufrecht, richtete sich dann wieder auf und strich ihr langes, dunkelblaues Sommerkleid glatt. Die kleinen weißen Punkte standen wieder in Reih und Glied. Auch die weißen Rüschensöckchen und schwarzen Lackballerinas hatten nichts abbekommen. Puh. Das war knapp. Wieder einen Schergen des Antigottes erfolgreich abgewehrt. Das musste sie später unbedingt Pater Beige erzählen, dachte sie noch und dann kam auch schon der Bus, vor ihren Augen, zum Stehen. Freudig klatschte sie zwei Mal in die Hände, hüpfte gnomisch in die Luft und glotzte plötzlich den Busfahrenden in die starren, hinter Glas eingefrorenen Mienen. Schlagartig hörte sie auf, stieg ein und leitete ihre kindliche Freude durch ein breites Zahnspangenlächeln ab. Etwa 14 Minuten. Denn genau so lange dauerte ihre Nachhausebusbusfahrt nach Hause.
Nachdem sie ausgestiegen war und der Ausstieg sich hinter ihr in den Einstieg für wartende Fahrgäste verwandelte hatte, wandte sie sich nach links, um der Straße, beschwingten Schrittes, für ein paar hundert Meter zu folgen. An einer Ampel inbrunste sie laut vor sich hin:
„Oh, liebe Ampel. Du bist heute scheinbar mein Freund!“ Denn sie sprang genau in dem Moment auf Grün, als Melly die Straße überqueren wollte. „Ja so was! Da hat doch einer dran gedreht“, lächelte sie schelmisch, schaute nach oben und wackelte mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung des blauen Himmels. Dieser tat, als sei nichts geschehen und schob ein paar Schäfchenwolken von hier nach da. Gott hat immer ein Auge auf dich, mein Kind, sagte Mama bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Wie Mel jetzt zum abertausensten Male feststellte, hatte sie recht behalten. Mama hatte immer recht. Frohen Mutes, Phold und den Nachhausebus hinter sich lassen, erreichte sie einige Minuten später ihr Ziel. Auf dem überdimensionierten Parkplatz für geschätzte 7000 Autos, Melly war gut im Schätzen, beschloss sie, den Supermarkt zu betreten, um sich ein Eis zu kaufen. Wenn man sich nun fragt, ob dies der Grund sei, warum Melly Brommer heute in den Supermarkt und nicht nach Hause gegangen war, so kann ich getrost an dieser Stelle verraten: NEIN!
Auf jeden Fall ging das Fräulein mit der Hornbrille, dem Buckel, der merkwürdigen Frisur und Kleidung in den Laden hinein. Innen sah sie sich genauestens um, schlich detektivisch, wie einer der Helden aus ihren P&P-Lieblingskriminalromanen, durch die Regalreihen. Bei den Süßigkeiten stockte sie kurz. Hier trieb sich ein dicklicher Mann, auf der Suche nach einem Diätschokoriegel, herum. Mit einem Blick in den Hygieneartikelgang erwischte sie eine ältere Frau beim Bindenklau und in der Tiefkühlabteilung trieb sich eine Gänsehaut herum, die sich sogleich an sie klammerte. Selbst in der Alkoholabteilung drehte sie eine Runde, auch wenn ihr die teuflischen Säfte wahrlich Angst machten. Wie sagte Mama immer? Das Blut des Antigottes. Beim Anblick der Flaschen überkam Mel ein mulmiges Gefühl und die Erinnerung ihrer ersten und einzigen Erfahrung mit Alkohol. Das würde sich nie nie nie nie nie nie niewiederwiederholenwürdeessichnicht, schwor sie bei allem was ihr heilig war. Und ihr war viel heilig.
Es war etwa mit 19. Mel war zu ihrer ersten Feier eingeladen. Naja, nicht richtig eingeladen, es war ein Klassentreffen der katholischen Schule, zu der sie ging. Hier wurde getanzt, gelacht, geplaudert, gegessen und vor allem getrunken. Auf einem Tisch in exzellenter Lage stand in kelchförmiger Schale eine wirklich leckere Fruchtbowle in tiefrot. Mel schmeckte die Bowle ausgezeichnet. Nach kurzer Zeit wurde ihr übel bis schlecht und die Welt um sie herum hatte sich in einen wackelpeterigen Sündenpfuhl verwandelt, in dem alle entweder verschwommen aussahen, oder mit den Mündern aneinanderklebten, oder beides. Irgendwann hatte ihre Freundin Liz ihr viel zu spät gebeichtet, sie habe gesehen, wie jemand Alkohol in die Bowle gekippt hätte. Mel war natürlich eine ganze Woche sauer auf Liz gewesen. In dieser Zeit hatte sich ihre Freundin einer Gruppe Motorrad Rockern als Gespielin angeboten und wurde nie wieder gesehen. Manchmal plagten Mel noch Schuldgefühle deswegen, doch Mama meinte, Liz wäre immer ein leichtes Mädchen gewesen und der Antigott habe sie nun endgültig geholt. Deshalb hasste Mel das Zeug und huschte nur umso schneller an ihm vorbei.
Das war der letzte Gang. Der Laden war sauber. Ein wenig enttäuscht schlenderte sie Richtung Ausgang. An der Kasse fiel ihr Blick auf das Zeitschriftenregal, wo sie mit geweiteten Augen vor dem neuen P&P stehenblieb. Augenblicklich griff sie sich einen der Romane und las den Einband.
Penhall & Pork, wieder unterwegs um dem Bösen Einhalt zu gebieten.
Klang vielversprechend. Nicht lange überlegend, nahm sie das Büchlein, eine Ausgabe von „U.F.O.s GESICHTET“ und ein buntes Eis in Form eines konischen Analschraubendildos, was sie zweifelsohne nicht wusste, und zahlte. Wieder auf dem Parkplatz angelangt, schloss sie ihren Wagen auf und setzte sich mit heruntergekurbelten Fenstern in den kochenden Innenraum. Die Sonne brannte wie brennende Sonne ohne Wolken brennt. Genüsslich das Eis schleckend und den Parkplatz immer im Blick, schlug sie den Roman auf. Heute war ihr großer Tag, das hatte sie bereits im grüngrauen Morgenurin gehabt.
Unterbrechung der Kühlkette
Die Sonne stand bereits tief über der Stadt. Obwohl der Parkplatz bereits einige Zeit im Schatten der hohen Gebäude lag, gab ein kleiner Wagen noch immer eine unglaubliche Hitze an seine Insassin ab. Das Eis war schon längst oral entsorgt und Penhall & Pork hatten es zum wiederholten Male geschafft ihren Mörder zur Strecke zu bringen. Das heißt, nicht ihren Mörder, sondern den Mörder der Geschichte. Während Melly ganz in Gedanken bei den zwei Detektiven in der Londoner Untergrundbahnwelt verweilte, hätte sie IHN um ein Haar verpasst. Ganz sicher war sie sich nicht, ob er es gewesen war, denn als sie ihn bemerkt hatte, war er schon halb im Supermarkt verschwunden. Zumindest seine obere Hälfte. Mel sog ein laues Lüftchen ein, als könne sie ihn von hier aus wittern und um ihr Gehirn mit frischem Sauerstoff auf Touren zu bringen. 18:00 zeigte die Armaturenbrettdigitaluhranzeige. Sie rutschte sich auf dem Sitz zurecht, legte P&P beiseite und starrte auf die Doppelautomatiktür des Ladens. Gleich würde er heraus kommen. Und diesmal, das schwor sie sich, könne er nicht so schnell entwischen. Die Fenster bereits geschlossen, Socken hochgezogen, Autoschlüssel in der einen und ihren kleinen Rucksack auf dem Schoss in der anderen Hand, wartete sie. Jederzeit bereit aus dem Auto zu springen und ihm zu folgen. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und ließ die Sekunde, in der er den Laden betreten hatte vor ihrem geistigen Auge noch einmal aufleben und ZACK: Standbild. Eigenartig nur, dass sein wunderbares, lockiges, schulterlanges, fluffiges, nach Zitrone, Bergamotte und Zuckerwatte duftende Haar, im Standbildwind leicht hin und her wehte. Sie zoomte heran. Ganz nah heran, bis sie ihr Gesicht tiefer und tiefer hineinpressen konnte und sich darin verlor.
Ein „NEIN!“ katapultierte ihre Augenlieder nach oben, bis sie sich comicfigurenartig mehrfach überschlugen. Wenn sie ihn jetzt verpasste, wäre die ganze Arbeit umsonst gewesen. Eine Woche hatte sie nach der Arbeit im Auto zugebracht und auf ihn gewartet. Um ihn wieder zu sehen, war ihr jedes Mittel recht und nun verpasste sie den Moment um sich in Schwelgereien zu ergehen? Auf keinen Fall! Angestrengt starrte sie auf die Glasflächen. Auf, zu, auf, zu, leerer Einkaufswagen rein, voller Einkaufswagen raus. Er war nicht da. Er kam nicht raus. Sie schaute auf die Uhr. Hatte sie ihn bereits verpasst, mit ihrer blöden, blöden Träumerei. Sie schaute noch einmal. Dumm nur, dass sie sich die Uhrzeit nie mehr als 5 Sekunden merkte, wenn sie sie sah.
„Mensch, Melly, so ein blödes, blödes, blödes …“ Sie schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad, ein, zwei, drei Mal. Dann riss sie sich noch einmal zusammen, glotzte vorgebeugt aus der schmutzigen Frontscheibe, rieb von innen mit der flachen Hand daran herum, als könnte sie ihn herbeiwischen und betete zu Gott, Jesus, Maria und Josef und wem ihr sonst noch einfiel. Und dann war er da. Eine vollständig recycelbare Einkaufstragetasche auf Leinenbasis in der linken Hand, schnippte er mit der Rechte gerade eine Münze in den zerknickten Coffee2go-Pappbecher eines Obdachlosen mit Hochschulabschluss, um in Richtung Westen fortzugehen.
Jetzt nur nicht die Nerven verlieren! Nur nicht die Nerven verlieren, mahnte sich Melly und stieg hastig aus der Blechbüchse, um prompt, ihren Wagenschlüssel unters Auto purzeln zu lassen. Fast hätte sie sich beim Aufheben noch den Kopf gestoßen, doch sie schloss schnellstens ab und rannte kopflos über den kopfsteingepflasterten Parkplatz.
„Er ist weg, Melly! Er ist weg“, schalt sie sich und eine alte Dame, die gerade ihren Rollator auf 2km/h minus Erdbeschleunigung gebracht hatte, merkte es nicht. Hastige Blickschweifigkeit belastete den Nacken, während sie sich suchend streckte. Dann tauchte die lockige Gestalt hinter einem Busch wieder auf. Er hatte sich nämlich einen Schuh zugebunden, was eine längere Unterbrechung der Kühlkette seiner Einkäufe zur Folge hatte.
„DA! Hahaha!“ Melly hüpfte hoch, als wenn sie durch ein Kakteenfeld stolpern müsste. In genau diesem Augenblick wurde ihr gewahr, wie auffällig jemand sein musste, der einen herumhüpfenderweise verfolgte, hielt sie inne und gewann an Gelassenheit.
P&P, bemurmelte sie sich dann, ich arbeite für P&P und beschatte nun diese Zielperson. Männlich, ca. 180cm groß, braunes, lockiges, schulterlanges Haar, 3 Tagebart, blaue Augen und ein goldiges, einnehmendes Lächeln. Und er ist so süß …
„Ein bisschen mehr Professionalität“, unterbrach sie eine Stimme barsch, aus dem Nichts. Es war Julius Penhall. So hatte sie sich seine Stimme immer vorgestellt. Rau, unfreundlich, hart. Und nun sprach sie zu ihr, wie zu ihrem Kollegen Pork. Schon kam ihr die Idee:
Genau, ich bin Pork, dachte sie und fühlte sich direkt viel sicherer. Jetzt konnte ihr nichts mehr passieren. Nach ein paar gekonnten Schritten wich sie nach rechts aus, brachte somit einen Baum zwischen sich und ihr Observierungsobjekt, und hängte sich zügig an seine Fersen, ohne den geringsten Verdacht zu erregen. Sie war zwar nicht in London, aber auf der Jagd. Wieder!
Eisbär vor Pinguinnest
Auf dem Weg zu Room 7 machte sich die Ärztin immer noch Gedanken. Die ganze Nacht hatte sie schlecht geschlafen, da die neue Matratze noch nicht eingelegen war. Der gestrige Vorfall geisterte nun, nach dem Morgenkaffee, in ihrem teuer frisierten Kopf herum. Micha war bereits auf dem Wege der Besserung, jedoch würde sie den Neuen vorerst nicht so schnell wieder mit in die Gruppe nehmen. Sie hatte sich, aufgrund ihres überaus immensen Intellekts und ihrer fast unfehlbaren Intuition zu sicher gefühlt. Trotz spärlicher Informationen aus der Akte und ohne den Patienten zuvor gesehen zu haben, war sie von einem non-aggressive Verhalten ausgegangen. Scheinbar zu forsch hatte sie den zweiten vor dem ersten Schritt gemacht. Dieser Fehler würde ihr kein zweites Mal unterlaufen, so viel war sicher.
Gut beladen und mit einem Coffee2go im Maxi-Pappbecher, Nummer 2 an diesem Tage, bog sie strammen Schrittes um Ecke 24 und hielt dann vor Room 7. Direkt vor einem Kittelklotz mit Hamburgervisage:
„Guken Morgmpf“, grunzte es. Sie nickte nur. Wieder so ein grobes Stück Muskelfleisch. Sie musste unbedingt einmal mit Calson reden, ob er nicht ein paar freundlich aussehende, tätowierte Typen der Motorradmafia für die Betreuerjobs anheuern konnte. Mein Gott noch eins!
„Soll if hiea wapfm?“, quetschte der Betreuer mit der durchgehenden Augenbraue im Neandertalerdesign hervor.
„No! Nicht nötig, Sie brauchen nicht zu …“, fast hätte auch sie wapfm gesagt, besann sich aber eines Besseren „… warten. Machen Sie Feierabend. Danke!“ Wankend stapfte er davon. Sicher trollte er sich nun in eine dunkle, feuchte Ecke im 3ten Kellergeschoss, um mit seinem Lieblingslendenschurz Windräder anzufurzen. Oder was diese Typen sonst so in ihrer Freizeit taten.
Dieser Calson … dachte sie kopfschüttelnd, öffnete die Tür und klackerte mit zwei Mal 11cm in den Raum.
Der Neue saß bereits auf der Couch und blätterte in einer politischen Zeitschrift. Das fiel Emily sofort auf, denn die meisten nahmen sich sehr intensiv, wie man am zerfledderten Umschlag erkennen konnte, ein Schlumpf Magazin vor. Wenn noch eines da war.
„Das Labyrinth ist schon ausgefüllt!“ witzelte er und hielt das Schlumpf Magazin hoch. Sein Lächeln bezauberte.
„Well done. In welcher Zeit?“, ließ sie sich zum Smalltalk verleiten. Ups. Was war denn hier los? Witzeleien, vor dem ersten Gespräch, mit einem GUEST! Emily kam näher, trat ihn seine machtvolle Aura. Plötzlich fiel ihr der Vorfall vom Vortag wieder ein. Die Alarmglocken gingen an. Wie unprofessionell von ihr. So etwas schaffte Vertraulichkeiten und untergräbt das Guest–Therapeuten–Verhältnis.
Zügig machte sie aus ihrem Coffe2go einen Coffee2flow und stürzte ihn die Kehle herunter. Dann legte sie Schreibblock und Stift beiseite und stellte ihre Tasche ab, um ihren engen Rock glatt zu streichen. Haltung, Emily, Haltung. Beide reichten sich die Hand. Sie setzte sich, er legte die Lektüre beiseite und musterte sie.
Die Schuhe verlängerten ihre Beine bis ins Unendliche. Lange bestrumpfte Schenkel, glatt und seidig, und eine dunkelblaue Schulmädchenuniform, die sich eng an ihre schlanke Figur schmiegte. Lediglich das künstlich gestraffte Gesicht ließ ihr Alter vermuten, aber schlecht schätzen. Ein Duft von Jasmin umwand ihren Körper wie eine unsichtbare Schlange. Sie spürte seine anzüglichen Blicke auf ihrem Körper. Und obwohl sie es sich nicht eingestand, gefielen sie ihr.
„Let‘s beginn“, sagte die Ärztin wasserdicht. „Mein Name ist Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching, Leiterin von Haus Bellfort. Ich führe heute die Untersuchung bei Ihnen durch, Herr Charity.“
„Sagen Sie Juras zu mir!“ Sie blickte ihn stumm und steif an. Eine lange Pause entstand. Sein Lächeln verschwand. Dann fuhr sie fort.
„Sie können sich auch hinlegen, wenn es Ihnen hilft zu relaxen, Herr Charity.“ Die Anrede sagte sie betont langsam, um keinen Zweifel an ihrem Verhältnis aufkommen zu lassen. Das Eis war wieder geflickt.
„Entspannen?“, wurde er schlagartig ernst bis angesäuert, da ihn sein Charme scheinbar nicht weiterbrachte. „Wie soll ich mich HIER entspannen. Ich bin nicht freiwillig hier und schon gar nicht zum Entspannen! Ich war bereits 3 Tage zum ENTSPANNEN im ZentralKlinikum. Man sagte mir, ich würde hier eine kleine, letzte Untersuchung absolvieren und dann: Auf Wiedersehen!“
Sie ließ ihn reden, goss zwei Gläser mit Wasser voll, trank einen obligatorischen Schluck und machte sich Notizen.
„Über diesen Sachverhalt muss ich Sie wohl aufklären. Sie wurden zu mir geschickt, damit ich mir ein Bild von Ihnen machen kann und dann wird entschieden, wie es weiter geht!“
„Weiter geht?“, wiederholte er. Für Wiederholungen hatte er wohl eine Schwäche. „Soll ich also noch länger hier bleiben?“
„Das hängt ganz von meinem Bericht ab, den ich Dr. Nikolay ins ZentralKlinikum senden werde!“ Sie tippte zwei Mal mit ihrem Stift auf den Schreibblock auf ihrem Schoss. Nun schmiss Charitys Puls die Walkingstöcke weg und begann zu galoppieren. Es war spürbar. Mit großer Anstrengung riss er sich jedoch zusammen, so gut es ging und schwieg, wie ein Eisbär vor einem Pinguinnest.
„Can you tell me, was gestern in der Vorstellungsrunde geschehen ist?“, fragte Emily in professionellster Manier. Er wippte zurück, dann vor, sog die Luft ein und schnaubte:
„Geschehen? Ich habe mich selbst verteidigt, das ist geschehen!“
„Aber es hat Sie doch niemand provoziert oder angegriffen, you know? Vor allem Herr Breizbein nicht.“
„So viel will ich Ihnen verraten:“, begann er geheimnisvoll, mit dem Finger wedelnd. „Vor allem die, die so unschuldig tun und angeblich kein Wässerchen trüben können, sind die Schlimmsten!“ Mit verschränkten Armen und die Beine übereinanderschlagend lehnte er sich zurück. Von Hinlegen aber immer noch keine Spur. Mit einem „Hmm!“ kommentierte Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching seine Aussage und machte sich einige Zeit Notizen. Im Raum herrschte eine spürbare Grundspannung. Sie schwappte die ganze Zeit hin und her. Von einer Wand zur anderen. Juras brach dem Schweigen das dünne Rückgrat. Diesmal die Zunge-in-Honigtopf-getunkt-Taktik. Wandlungsfähig bis Schizophren, dachte sie.
„Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching. Ich denke wir wissen beide, dass ich hier nicht her gehöre. Ich meine, seien wir doch mal ehrlich. Die Typen hier haben sie nicht alle auf der Pfanne. Die glauben die seien Napoleon oder Hannibal oder so was, haben ihre Katze ertränkt oder zeigen ihren Piepmatz am Busbahnhof um 16:30, wenn alle Pendler nur nach Hause wollen und mit Würstchen nichts am Hut haben. Ich, ich bin ein ganz ‚normaler‘ Typ! Verstehen Sie?“ Charity lächelte mit Babykatzengesicht, welches sie zum Einlenken und ihn hier so schnell wie möglich raus bringen sollte. Die Reaktion der Ärztin war jedoch nicht ganz so wie erhofft. Sich die Halbbrille abnehmend und wieder aufsetzend, die Beine von rechts nach links übereinanderschlagend, mit vornehm dezentem Rascheln in Haar und Kleidung und einem Blick von psychiatrischem Verständnis, sagte Frau Doktor schließlich:
„Herr Charity!“ Es folgte ein langes Ausatmen „Die Reaktion, die sie gestern an den Tag gelegt haben, war everything else than ‚Normal‘ “ Eine kleine Nervositätspause entstand, die sich direkt neben Charity auf die Couch setzte und auf ihren nächsten Einsatz wartete. Wie unangenehm. „Wir haben hier keinen Napoleon und Hannibal ist im Klinikum in der Innenstadt, aber was wir hier haben, ist viel wichtiger als das. Time, gut ausgebildetes Personal und vor allem ein Ohr und viel Verständnis!“ Sie zog die Nasenspitze nach oben und ihr Blick bohrte sich, durch das Okular verstärkt, wie ein unsichtbarer Laser durch Juras Netzhaut. Es gab einen stechenden Schmerz an der Rückseite der Schädelplatte und er war plötzlich wie paralysiert. Die Nervositätspause verpasste fast ihren Einsatz. Doch dann stand sie auf und erfüllte den Raum. Er begann das Schwitzen.
„Nichts kommt von ungefähr, Mister Charity. Und je schneller Sie das Begreifen und sich uns bzw. mir, ich gedenke ihren Fall höchst persönlich zu übernehmen, öffnen, desto schneller kann ihr Heilungsprozess beginnen. Understand?“
Ihre Worte waren magische Worte, die in ihrem Klang und ihrer Vortragungsweise jeden Kaumuskel in Charitys Körper zum Erschlaffen brachte. Seine Kinnlade klappte herunter und hätte beinahe seine Zehen berührt. Der Mann auf der Couch fing sich und kurbelte sie wieder hoch.
„Heilungsprozess? Öffnen? Persönlich übernehmen?“
„Yes, right!“ sagte sie. Gierig stürzte er das große Glas Wasser herunter, nur um noch eines zu nehmen und schließlich noch ein halbes hinterher. Völlig außer Atem japste er:
„Und wie lange wird das dauern?“ Die Antwort würde ihm nicht gefallen, das ahnte er bereits.
Die Ärztin zog die dünnen, scheinbar nur aufgemalten Augenbrauen nach oben und einen Hauch die Schultern straff:
„Das liegt ganz bei Ihnen. Fakt ist jedoch: Ich kann und werde sie nicht so einfach gehen lassen.“
„Das können Sie nicht tun! Das ist Freiheitsberaubung“, protestierte Juras plötzlich wieder mit Nachdruck. War er zuvor noch niedergeschlagen und einsichtig, war er im nächsten Moment aufgewühlt und kurzsichtig.
„Sie irren, Herr Charity!“ Sie stand auf und machte kleine, runde Abdrücke in den Hochfloorteppich, Richtung Coffeedesk. Dabei sprach die Frau weiter ruhig und gelassen mit diesem Hitzkopf. Eigentlich tat es ihr fast leid, den Mann mit solchen Mitteln an die Wand zu fahren. Doch er hielt mit etwas Schrecklichem hinter dem Berg, das spürte sie, dafür hatte sie ihre jahrelang geschulte Intuition. Ihn einfach ziehen zu lassen wäre verantwortungslos. „Sie sind ins Getriebe der Psychoanalyse geraten und hier kommen Sie so schnell nicht wieder heraus. Sie haben Probleme und dabei möchte ich Ihnen helfen, verstehen Sie?“ Er schwieg wieder. Am Coffeedesk nahm sie die Akte zur Hand und meinte dann lauter, da der Vollautomat dröhnte:
„Offiziell sind Sie noch bei meinem guten Friend Prof. Dr. Nikolay im ZentralKlinikum in Behandlung. Doch ich werde ihre Versetzung hierher bewilligen lassen.“ Der kleine Löffel klingelte in der Espressotasse. „Reine Formsache.“ Sie blickte auf die Uhr, hörte auf zu rühren und legte den mit leichten Lippenstiftspuren in zartem Rot besetzten Löffel fort. „Ab morgen können wir dann, sofern Sie dazu bereit sind, mit der Therapie beginnen und ihrem ‚Inneren Schatten‘ auf die Schliche kommen. Wie gesagt, Juras, es liegt ganz bei Ihnen!“
Dann setzte sie sich mit einem frischen Espresso2sit. Zögerlich knirschte es zwischen seinen Hirnhälften wie Kontinentalplatten an einem späten Herbstnachmittag.
„Aber meine Frau …“, aberte Charity in einem letzten Versuch, wurde aber unterbrochen.
„Die weiß Bescheid und wünscht sich ihre schnelle Genesung. Zu diesem Zeitpunkt ist es nicht angebracht sich emotionalen Störfaktoren auszusetzen, so müssen wir, vorerst, auf Kontakt nach außen verzichten. WIR sollten uns jetzt ganz und gar auf SIE konzentrieren!“ Das ließ Frau Doktor erst einmal sacken und nippte am Tässchen. Die langen Fingernägel hatten Mühe den winzigen Henkel der Rollani-Designer-Tasse zu halten. Ein Kraftakt.
Charity blieb keine Wahl mehr. Es war, wie sie bereits gesagt hatte. Er war in die Psychotherapiemühle geraten. Wie, war ihm immer noch nicht klar. Juras überlegte und überlegte und überlegte.
„Gut, dann hätten wir das ja geklärt!“ Sie lächelte ihr schönstes Lächeln, welches ihre chirurgisch einwandfrei gestrafften Lachfältchen zuließen. „Leider habe ich jetzt noch einen anderen Termin, wenn Sie mich also bitte entschuldigen möchten. Wir können unsere Unterhaltung gerne morgen weiter führen!“ Mit zur Seite gebeugten Knien sammelte sie ihre Sachen auf und klickklackte hinaus. Zurück blieben eine leichte Wolke aus Jasminduft und ein geistesabwesend überlegender Juras Charity. Erst als der Weißkittelschrank mit dem Bildungsgrad einer Zitrone ihn in seinem Zimmer ablieferte, murmelte er unhörbar zu sich selbst:
„Runde eins geht an Sie, Frau Doktor!“
Eine Akte sagt gar nichts
Es war schon spät am Abend, als Emily Schabbach von Graupen-Aiching auf ihrer Couch im Wohnzimmer lag und die Akte noch einmal durchging. Normalerweise nahm sie keine Arbeit mit nach Hause, ob Akten oder Guests. Sie lebte allein, außer ihren zwei Goldfischen, die aber niemals von ihr Namen bekamen, da sie alle 6-8 Wochen ausgetauscht werden mussten. Über rührselige Begräbnisfeierlichkeiten war Emily schon längst hinaus.
Ihr Haus, war ein schönes Haus und um ein Haar, obwohl sie dickes Haar besaß, hätte sie es nicht gekauft. Denn eigentlich war es für sie alleine ein wenig zu groß. Doch mit etwas Mühe und dem gewissen Kleingeld, war es ihr gelungen, zwei Schuh- und zwei Kleiderzimmer zu füllen. Sie liebte Schuhe und manchmal passierte es, dass sie nachts in einem ihrer Schuhzimmer erwachte, weil sie über der Entscheidung, welches Paar, denn das geeignetste für den morgigen Arbeitstag wäre, auf dem Boden eingeschlafen war. So hatte sie kurzerhand in jedem Zimmer eine gemütliche Couch aufstellen lassen. Das war besser für den Rücken und die Frisur.
Das Telefonat mit David Nikolay hatte zwar die eine oder andere Zusatzinformation über ihren Neuzugang geliefert, doch so ganz wurde sie daraus nicht schlau.
Zuvor gab es keine Auffälligkeiten, dachte sie hin und her blätternd und versuchte sich einen Reim darauf zu machen, doch was zur Hölle reimte sich auf gewesen? Auf Knopfdruck verrichtete die Fernbedienung ihren besten Dienst und erlöste Emily vom unerträglichen Geschwätz einer stumpfsinnigen Unterhaltungsshow. Diese Sendungen waren inzwischen so unglaublich hohl, dass die Fernseher-Hersteller bereits Enthallmodule in ihre Geräte einbauten. Als sie ihre Beine auf der Wohnzimmercouch noch weiter anwinkelte, gaben sie, in Schlafleggins aus Leder Imitat gehüllt, ein knirschendes Geräusch von sich. Behände griff die Ärztin zu dem hohen Rotweinglas und nippte 7 Mal. Dann betete sie sich die Fakten noch einmal vor. Irgendetwas musste ihr entgangen sein.
Sein Name ist Juras Charity, Sohn von Nesslienne (geborene Aldonem), Hausfrau und Pasquale Charity, LKW-Fahrer. Beruf: Geschäftsführer und Inhaber des größten Pharmaunternehmens der Welt, äußerst vermögend, 39 Years old, verheiratet. Sie stockte. Seit 2 Wochen! Sie staunte. 2 Wochen married und schon liefert ihn seine Frau ein? Sicherlich waren sie bereits mehrere Jahre zusammen, bis ihr der Kragen platzte… Sie schrieb: ‚Wie lange sind sie mit ihrer Frau zusammen?‘
Ein kleines orangenes Zettelchen nahm die Frage auf seiner Vorderseite freudig entgegen. Dann blickte sie zum Couchtisch herüber. Noch zwei Schlucke und der Rotwein wäre geleert. Gesagt, getan. Behaglich rekelte sie sich ein wenig und fuhr fort.
Verheiratet, no Children. Es gab keine religiöse Vergangenheit. Keine Verhaftungen, ein paar Strafzettel, keine Anzeigen wegen Vandalismus, Trunkenheit oder sonstigem. Ein scheinbar bodenständiger Geschäftsmann ohne nennenswerte Auffälligkeiten.
„Ich trinke NIE.“ überflog Emily noch einmal die gemarkerten Worte. Sie stammten aus einem der von David geführten Interviews. Emily überlegte.
Und doch ruft seine Frau nachts die Polizei und er wird völlig außer sich und alkoholisiert in Gewahrsam genommen. Sie habe Angst vor ihm und er leide an Wahnvorstellungen, gab Ngoa Charity geb. Swamboudo zu Protokoll.
‚Wahnvorstellungen‘
Ein zweites Zettelchen erging sich, mit blauer Kugelschreiberschrift auf seinem Bauch, in stummer Begeisterung. Er bräuchte dringend Hilfe und sie fühle sich nicht mehr sicher vor seinen Ausbrüchen.
‚Ausbrüche‘
Zwar habe er sie noch nie misshandelt, aber ihre Seele sei bereits stark angeschlagen und es wäre gut, dass die Öffentlichkeit durch den Polizeieinsatz endlich einmal davon erführe…
Ab diesem Zeitpunkt wurden die Informationen aus der Akte zahlreich, aber schwammig. Fakt war: Die Polizei nüchterte Charity aus, übergab ihn am nächsten Tage, aufgrund unkontrollierbarer Ausbrüche, an das ZentralKlinikum und somit an ihren langjährigen Freund und Ex-Studienkollegen Prof. Dr. David Nikolay. Dem blieb nothing else übrig, als den völlig verstörten, unzusammenhängende Sätze stammelnden Mann zu medikamentieren. Nach einer Ruhephase in Rückenlage wurde ein Interview in Sitzhaltung geführt, was jedoch keineswegs Licht into the Darkness, egal ob liegend, sitzend oder stehend, brachte. Mehrere Tests und Befragungen des Patienten ergaben keinerlei brauchbare Diagnose. So entschied man, nach ausgiebiger Beratung, sich an extern zu wenden.
„Man wolle, dem Patienten die bestmögliche Behandlung angedeihen lassen, die es für seinen speziellen Fall gab“, entnahm Emily dem Überführungsbericht. Es bedurfte keines psychologischen Fachverstandes um zu erkennen, dass es hierbei lediglich um Politik ging. Aufgrund der Undiagnose ging das staatliche ZentralKlinikum selbstverständlich von einer Langzeittherapie mit geringer Chance auf Genesung aus. Die staatliche Einrichtung wird vom Steuerzahler unterhalten und so wollte man sich keinen Fixkostenpatienten ans Bein binden. David war jedoch immer bemüht seine Patienten, gerade, wenn sie finanziell hervorragend aufgestellt waren, gut untergebracht und behandelt zu wissen. Deshalb hatte er Bellfort vorgeschlagen und sie war bei David mit ihrer Anfrage auf permanente Verlegung offene Scheiben eingerannt. Ab morgen war Charity, ganz offiziell, ihr Guest.
Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Ihr fröstelte. Der aufkommende Wind wehte durch die offene Verandatür herein und hob ihr seidig durchsichtiges Sleepingshirt mit dem Federboarand. Dann presste er sich durch die üppigen 70E-Brüste. Ihr Lieblingsträgershirt in strahlendem Weiß senkte sich wieder. Ein kurzer Blick, die Knospen saßen noch auf Position. Ihr Schönheitschirurg Dr. Stanton hatte wieder hervorragende Arbeit geleistet. Sie stand auf, schlüpfte in die 8cm LowHeelsSchlafpantoffeln und schlenkerte zum Großkühlschrank herüber, nachdem sie die Verandatür geschlossen hatte. Der Rotwein ließ den Raum etwas wabbelig wirken, doch es ging. Ein Mal die Woche bestellte Emily Pizza, somit hatte sie auch ein Mal die Woche am nächsten Tag ein kaltes Reststück im Kühlschrank. Und das schob sie sich jetzt genüsslich zwischen die sinnlichen, aufgespritzten Motoxlippen, während sie auf einem Hocker an der Granitbar Platz nahm, die die Küche vom Wohnbereich trennte. Neben ihrem Teller die offene Akte. Zwei Bissen später fand sie die richtige Stelle wieder.
Genüsslich auf dem kalten Käse kauend, las sie murmelnd die Satzfetzen und Words, die David in der Nacht von Charitys Eintreffen notiert hatte. Immer und immer wieder. Sie ergaben keinen erkennbaren Sinn:
Herabsteigen … vor ihm schützen … seit Jahrtausenden in der Familie … wird er nie bekommen … das Ende der Welt … Verdammt … der Gefallene … Gottes Diener …
Ihre Augen wurden müde, die Pizza war nur noch zerlegter Magenbrei, der Rotwein leer und die Goldfische trieben bäuchlings im trostlosen Rundglas. Outside war es already dark und sie klappte die Akte zu. Schluss für heute, es war schon late.
Bevor sie ins Bett ging, trat sie hinaus auf die Veranda. Dort atmete sie tief die frische Nachtluft ein, schloss die Augen und hörte das Meer auf den breiten Strand preschen und versiegen. Ein paar Minuten vergingen und wieder kehrten ihre Gedanken zur Akte und dem außerordentlich interessanten Fall zurück. Dann, ohne es zu wollen, kam er ihr in den Sinn. Juras war ein wirklich gut aussehender Mann. Ihre Erinnerung untersuchte das Standbild. Der 6 Tagebart, die dicken, schulterlangen Haare, die in leichten Wellen das markante Gesicht umrahmten. Seine Nase war männlich und kraftvoll, breit aber nicht zu groß. Hervortretende Wangenknochen gaben ihm eine natürliche Schönheit und Emily vermutete, dass er es auch wusste. Wenn sie es recht bedachte, wirkte er anziehend. Das hatte sie bei noch Niemandem sonst gespürt. Durchdringende, tiefbraune Augen … und dann dachte sie an seine tastenden Blicke und genoss den kurzen Moment von heute Morgen noch einmal. Ihr wurde ganz warm in Brust und Lende, was sie ungeniert dem armen Rotwein zuschob. Ein Windstoß verfing sich in ihrem langen Haar und strich zärtlich über jede verfügbare entblößte Hautpore. Gänsehaut bildete sich aus. Und was für eine.
Mit einem Mal riss sie die Augen wieder auf und sich zusammen.
Emily, schalt sie sich. Ein Guest und married. Was war nur in sie gefahren? So etwas kannte sie überhaupt nicht von sich. Ein Maß an Unprofessionalität, was ihr zu tiefst zuwider war. Unverzüglich musste sie damit aufhören, im schlimmsten Fall musste sie Juras Charity an jemand anderen weiterverweisen. Dann beruhigte sie sich. So weit musste es ja gar nicht erst kommen.
Zügigen Schrittes stakste sie hinein und ging, mit der Genugtuung zu Bett, einen very interesting case an Land gezogen zu haben.
Einheitstag
Abgekämpft kam Melly zu Hause an, schmiss den kleinen Rucksack beiseite und ließ sich nachdenklich auf ihren Küchenstuhl nieder. In Gedanken versunken stierte sie ins Leere, während ihre Microstrahlen-Speise karussellig ihre Runden drehte. Die Enttäuschung war ihr ins Gesicht geschrieben, denn das Abenteuer war weniger informativ denn abenteuerlich gewesen. Wenn man von einem Halt am Hotdogstand an der Ecke und diversen Kleingeldspenden an Musiker, Bettler, Obdachlose, Spendensammler und dem IchbraucheunbedingtnochfünfMünzendamitichmireineFahrkartenachHausezumeinerkrankenbettlägrigenUrururgroßmutterkaufenkann-Typen absah. Der Mann schien ein großzügiger Mensch zu sein.
Zu gerne hätte sie noch mehr herausgefunden, doch mit seinem Namen kam sie schon ein Stückchen voran. Das würde die weiteren Ermittlungen erleichtern. Er würde ihr nicht durch die Lappen gehen, das war klar. Obwohl sie diesen Ausdruck mehr als anzüglich fand. Aber Privatschnüffler hatten eben eine solche Schnauze am Leib, dachte Mel, grinste in sich und die Kochecke hinein. Ihrer Mutter würde das nicht gefallen. Doch zum Glück hockte sie weit weg, etwa 30 Minuten mit dem Bus, in ihrer Kleinstadt und tränkte das Knochenmark mit Gottesfürchtigkeit. Seit Jahren. Mel wurde wieder ganz zu Pork und ihr analytischer Verstand durchlebte und -suchte den Tag nach Spuren und Informationen, die ihr weiterhelfen sollten.
„Beeilung. Lauf!“ schrie ihr Penhall unvermittelt ins Ohr, während sich bereits die Türen des Busses schlossen. Jetzt ging es auf volles Risiko. Pork war klar, dass sich in dem Bus, außer in einer Schwulensauna, die Distanz zwischen ihm und der Zielperson auf ein Minimum reduzierte. Zu diesem Zeitpunkt hieß es: Handeln und eventuell auffliegen oder aufgeben und eine Woche Arbeit fortwerfen.
Pork legte einen Kurzspurt hin, hämmerte gegen die Metallkarosserie des schweren Personenbeförderungsmittels und die Tür öffnete sich ein letztes Mal. Auf die Frage des Fahrers nach der Zielhaltestelle meldete sich Melly Brommer wieder zu Verstand und Pork war verschwunden. Unter den Augen eines betrunkenen Seemanns, der in der ersten Sitzbank vor sich hin singlallte, stotterte sie:
„Ich wieß nicht … keine ahnung … bis …“
„Endstation: Das macht dann 5,30!“ sagte der Busfahrer genervt. Bei Mel platzte der Knoten:
„Was ist, wenn ich nur eine Kurzstrecke …?“ Die Türen schlossen sich hinter ihr und der Fahrer fuhr ruckelnd los:
„Heut ist Einheitstag. Da kostet die Kurzstecke statt 1,20 auch 5,30! Und jetzt gehen sie bitte nach hinten durch!“ Darauf erwiderte Mel nichts mehr, zahlte brav, nahm den Fahrschein und verzog sich in die hinterste Ecke.
Während sie vorüberschritt, schaute das Zielobjekt die ganze Zeit aus dem Fenster und schien sie nicht zu bemerken. Darüber war sie ausgesprochen froh. Jetzt galt es abzuwarten, unauffällig dreinzublicken und aufzupassen, wie ein Frosch auf der Autobahn. Nach ein paar Haltestellen und den dazugehörigen Stopps, stand der Mann auf und verließ den Bus. Ebenso knapp wie sie rein gekommen war, sprang sie durch die sich schließenden Türen und fand sich in einer äußerst noblen Gegend der Stadt wieder. Saubere Straßen, viele Alleen und eine Menge teurer Autos vor noch teureren Garagen mit angeschlossenen Herrenhäusern. Sie ließ die Entfernung zwischen ihnen noch ein Moment größer werden und folgte ihm dann die Straße herunter zu einer freistehenden Villa. Das Eckgrundstück war mit hohen Hecken, massiven Mauerabschnitten und schmiedeeisernen Gittern umsäumt. Es machte einen imposanten Ein- und auch Zweidruck.
Schickes Haus, dachte die junge Frau beeindruckt und beobachtete ihn durch ein Stück Hecke. Er stapfte die Einfahrt hinauf, nahm lässig die Stufen zur Eingangstür und klingelte.
Also ist das gar nicht dein Haus, es sei denn, du hast den Schlüssel vergessen, kombinierte Mel in Privatermittlermanier. Die Tür öffnete und schloss sich. Jetzt galt es wieder zu warten. Hoffentlich nicht zu lange. Mit einem Blick auf die Armbanduhr klatschte ein 18:30 auf die Netzhaut, kam auf der Sehrinde an und sumpfte fünf Sekunden später wieder weg. Eine halbe Stunde später kam sich MelPork oder PorkMel oder wie auch immer, nicht nur gelangweilt, sondern lächerlich vor, wie sie auf der gegenüber liegenden Straßenseite auf der Einfassung einer betonierten Umzäunung herum lungerte. Ihr Hintern wurde langsam kalt, sie überlegte kurz, ob sie ein weiteres Mal um die Villa streifen sollte, ließ es aber bleiben. Der dichte Bewuchs und die Zäune gewährten kaum Einsicht auf das Grundstück. Zudem wäre es zu auffällig gewesen. Zweimalig war bereits eine private Sicherheitsfirma mit ihrem Kleinwagen hier vorbei gekommen und hatte sie argusbeäugt. Bei einem Streifzug würde man sie, im besten Fall, des Platzes verweisen oder sogar anzeigen, in einen dunklen Keller sperren, mit Wassertropfen und Schlafentzug foltern, bis sie ihre Auftraggeber von der Gilde der Unsichtbaren, oder so was, verriet. Zumindest bildete sich das ihre Porkfantasie ein. Bei den Gedanken bekreuzigte sie sich zweimal und blieb lieber sitzen. Und siehe da: Alsbald öffnete sich das schwere Eisengitter mit den Verzierungen und Ornamenten, Wappen, Tieren und allem Schnickschnack und Zapp. Er trat auf den Gehweg, würdigte sie keines Blickes, denn sie versteckte sich hinter einem Baum. Dann richtete er sich aus und lief die Straße wieder hoch. Diesmal ohne vollrecycelbare Einkaufstragetasche im Leinendesign.
Vielleicht hat er für denjenigen eingekauft, der in diesem Haus wohnt, meldete sich der Pork in ihr wieder zu Wort, als sie die Verfolgung aufnahm.
„Natürlich, du Trottel, oder glaubst du der hat das Zeug dort im Garten vergraben?“, stänkerte Penhall. Das ihr Partner aber auch immer so ein Stinkstiefel war. Wie sich abzeichnete, ging es wieder mit dem Bus zurück zum Busbahnhof und dann zu Fuß nach Osten. Pork wusste es, Melly lief einfach hinterher. Nach etwa 6 Gehminuten blieb der Mann unvermittelt stehen. Er schaute sich um. Melly ging in die Hocke und machte ihre Ballerinas zu. Soweit man daran etwas zum zu machen fand. Dann lief er weiter, half einer alten Dame mit Pudel über die Straße und bog in eine Einfahrt, um dort sein eigenes Haus aufzuschließen und einzutreten.
„Aha und Oho!“ tönte es zwischen Mels Zahnspangen hervor. „Hier wohnst du also! Gelobt sei der Herr.“ Es war ein schönes Haus. Nicht ganz so protzig, wie das von eben, aber auch nicht ganz billig. Gute Mittelklasse in einer von Bäumen bevölkerten Allee. Der Rasen war gepflegt, es war ordentlich von Hecken umgeben und sah, obwohl schon etwas älter, gut in Schuss aus.
Sie vermutete, dass er gar nicht so weit von ihrem Zuhause weg wohnte, dabei hatte sie bereits am Ende des Parkplatzes vor dem Supermarkt die Orientierung verloren. 19:21. Ihr Magen knurrte und rief sich in Erinnerung. Außer dem Eis hatte sie seit Stunden nichts gegessen. Sie musste heim, bevor er das Bellen anfing. Doch eine, vielleicht die Wichtigste, Information musste sie sich noch beschaffen. Kurz dachte Melly daran die Shampoomarke für das wunderbar fluffige Haar herauszufinden, schlich dann jedoch lediglich zum Klingelschild. Ihr Herz raste. Ohne Deckung direkt vor einer Tür. Ein schneller Blick genügte und sie war verschwunden. Als sich auf dem Weg zum Busbahnhof die Anspannung legte und es immer dunkler wurde, fröstelte Melly. Ihr Magen knurrte nun noch lauter. Für heute war es gut.
Überraschenderweise fand sie mit Penhalls Hilfe tatsächlich den Weg zum Supermarkt wieder. Er hatte noch offen und sie holte eine extragroße Portion MicrostrahlenMulch mit Seebüschelsauce. Nicht gerade ihre Leibspeise, doch für heute würde es reichen.
Mit der Gabel stocherte sie in ihrer vegetarischen Futterschale herum und überlegte.
D. Kranz. Ich habe keine Spielsachen auf dem Rasen gesehen. Und das Klingelschild zeigte auch nur: D. Kranz. Sicher wohnte er dort allein. Kein: Hi, hier wohnen die Kranz… oder Kränze! Hihihi, schon wieder ein äußerst genialer Witz. Bereits der zweite an diesem Tage. Sie musste sich den Bauch halten vor Lachen. Fast wäre ihr die Silberschale mit dem Essensersatz heruntergefallen, hätte sie sie nicht fix auf dem Wohnzimmertisch positioniert. Selbstverständlich nur auf der abwaschbaren Plastikdecke.
Später, nach dem Zähneputzen, lag sie in ihrem weiten, grob karierten Schlafanzug, Marke Alte Herren, unter ihrer Bettdecke und zählte mögliche Namen für Herrn Kranz auf. Dabei stellte sie sich sein Gesicht vor, mit den zarten, fast weiblichen Zügen, lang gezogen mit hervorstehenden Wangenknochen und diesen durchdringenden, wässerigen Augen.
„Darius, Damaskus, Dathäus, Demaklatos, Dirius, Daedus, David, Datrius, Dedalus, Detlev, Detlef, Domian, Dominic, Daniel, Donnie, Dorman, Dostur, Dankwart, Drupa, Dragan, Dragon, Drolf, Dinzel, Diego, Dolf, Dumbert …“
Wie sie so murmelte und murmelte, murmelte sie sich in eine Art von Vornamensextase, bei der immer verrücktere Namen und Wortschöpfungen aus ihr hervorquollen. Ohne es zu wollen, wälzte sie ihren Kopf auf dem Kissen hin und her, bewegte plötzlich ihren Körper in Schlangenlinien und begann ihr Bett auf neuartige Weise zu zerwühlen. Dabei bekam sie ein ganz merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Und es breitete sich wellenförmig aus. Als ob ihr Bauchnabel die Eintauchstelle eines Kiesels in einen ruhigen Bergsee wäre. Woge für Woge tastete sich das Gefühl in Regionen vor, die bis dato lediglich der Ausscheidung überflüssigen Materials gedient hatten. Melly wälzte sich mit geschlossenen Augen und genoss die Wellen. Sie waren fremd und gleichzeitig beglückend, wie sie es noch nie … obwohl, nein, das stimmte nicht … sie hatte es schon einmal erlebt. Ein einziges Mal war ihr diese Empfindung daher gekommen, und zwar, als sie heimlich auf Bauer Flockharts dürre Kuh gesprungen war. Vielleicht 12 oder 14 war sie gewesen. Im regelrechten Flegelalter. Zumindest für eine katholische Schülerin. Der Kuhritt war einer Wette mit einer Mitschülerin gewesen. Und wie sie sich auf der schaukelnden Kuh festgeklammerte und in Positur gebracht hatte, überkam sie genau dieses Gefühl, welches sie jetzt wieder überkam. Damals wusste sie bereits, dass es ein unschickliches, überaus unchristliches und satanisches Gefühl war, doch sie konnte sich einfach nicht wehren. Der Dunkle hatte Besitz von ihr ergriffen. Zum Glück waren die anderen Mädchen vor lauter Angst, der Bauer könnte sie erwischen, von der Weide geflohen. Melly hatte derweilen ganz andere Sorgen. Die Kuh musste gestoppt werden, also überlegte Mel, sich lendentechnisch windend, was zu tun sei. Abspringen war zu gefährlich. Also tätschelte sie die Kuh am Hals und redete ihr gut zu. Gefühlsstöße durchfuhren sie und Mel war auf einmal wie verwachsen, festgeklebt, angesaugt, auf dem Rücken dieses alten Weibchens. Gemächlichen Schrittes wackelte das Fleckentier über die schier endlose Weide und Mel spürte jeden Wirbel. Und es wirbelte und wirbelte und Mel wurde ganz heiß und kalt, Schauer liefen ihr über den Rücken. Jetzt, während sie sich so in ihrem Bett wandt, war es genau so. „Dieter, Dietmar, Dirk, Dilmos, Dortaf …“ Die junge Frau straffte ihre Muskeln, ihr ganzer Körper war gespannt, einmal zur einen, einmal zur anderen Seite. Wieder zurück in der Vergangenheit umschloss sie den Hals ihrer Kuh, flüsterte sich und ihr Vernunft ein, sie solle endlich stehen bleiben, da dieses dämonische… oh… aber ihr Unterbewusstsein genoss insgeheim jenen antigöttischen Augenblick, zog ihn in die endlose Länge, wie diesen sogenannten Kaugummi, worüber alle immer redeten.
„Diktus, Dino, Dikerch, Dylan …“ Inzwischen hatte sie sich unter die Decke gegraben, der Sauerstoff wurde knapp und knapper. Schweißnasse Haarsträhnen hingen ihr in den Mund, verfingen sich in der Zahnspange, wickelten sich um den Hals, rieben durchs Gesicht. Silberne Sternchen tanzten vor ihren geschlossenen Augenliedern und sie spukte die Zahnspangen, schwer atmend von sich … „Dzyllan, Dyro, Drnghwerzhgweu“… zwischen ihren Beinen tobte eine Schlacht. Die Decke hatte bereits den Rücken der alten Kuh von damals nachgebildet und begrub Melly tonnenschwer unter sich. Alles Winden half ihr nicht, verstärkte nur den unendlichen Druck. Sie krampfte sich in einem verzweifelten Versuch um den Hals der grauen Dame und mit einem abschließenden Ruck, entlud sich die Anspannung in einem Feuerwerk von „Dahhhhhhhhhs“, einem wirbelsäulenbrechenden Aufbäumen und schmerzenden, verkrampften Fingern, die sich in Bettlaken, Matratze und Holzgestell hielten, bohrten, kratzten. Dann fiel sie zurück auf ihre Schlafstätte, pellte sich aus ihrer Decke und holte japsend Luft. Der frische Schlafanzug war nun alles andere als frisch und Melly, die noch vor wenigen Sekunden von Sinnen war, sprang auf und beseitigte eiligst, in völliger Dunkelheit, alle Beweise dieser unmenschlichen Verhaltensweise. Melly fühlte sich schuldig und schmutzig. Damals wie heute war ihr schmerzlich bewusst, dass solche körperlichen Begehrlichkeiten von Gott und Jesus als widerwärtige Sünde betrachtet wurden. Eine gute Christin hätte sich niemals zu derlei Spielen an sich selbst hinreißen lassen. Sich dem Teufel so zu öffnen, dass er sie benutzen konnte, für seine perversen Aktionen.
Morgen würde sie in aller Herrgottsfrühe, noch vor der Arbeit, in die Kirche gehen und beichten. Komme was wolle. Sie wusch sich und den Schlafanzug, putzte sich nochmals für 22 Minuten die Zähne, wusch sich erneut und putzte nochmals die Zähne. Der Antigott war durch den Mund in sie eingedrungen. So schmeckte es auf jeden Fall. Tief in der Nacht, aber gründlichst gereinigt, fiel ihr das Einschlafen schwer, da ihre Gedanken immer wieder zu dem Ereignis und zu ihm herüber schweiften. Stocksteif lag sie unter ihrer Bettdecke, schob alle sündigen Überlegungen fort und schwor sich, damit aufzuhören, was immer es auch war. Irgendwann schlief sie ein………………………………………
euer senf